An einem Mittwoch im November 1997 wurde ich von einem ehemaligen Mitarbeiter des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) telefonisch gefragt, ob ich denn wisse, wer am Montag zum Präsidenten dieser wichtigen Institution gewählt werden solle. Ich wußte es nicht und wollte es erst nicht glauben, als er den Namen Philipp Jenninger (im Januar 2018 verstorben) nannte. Vorsorglich teilte mir der Anrufer noch mit, dass nach seinen Recherchen die Wahl des CDU-Politikers kaum mehr zu verhindern sei. Das Wahlgremium bestehe mehrheitlich aus Anhängern der Union. Die Wahl sei wohl nur noch eine Formsache. Ich solle aber trotzdem etwas unternehmen. Das Wie und Was überlasse er mir.
Nicht nachtragend, aber davon überzeugt, dass Jenninger der absolut falsche Mann für dieses repräsentative Amt sei, und in Dennoch-Aktionen aller Art geübt, wollte ich diesen Vorgang wenigstens öffentlich machen. Am Donnerstag begann ich am Telefon eine Liste von etwa dreißig Journalisten abzuarbeiten, von denen ich annahm, dass ihnen der »Bonner Bildersturm« noch in Erinnerung war. Am 30. März 1976 hatte eine recht muntere, leicht alkoholisierte Schar von CDU/CSU-Abgeordneten unter Führung ihres parlamentarischen Geschäftsführers Philipp Jenninger während einer Ausstellungseröffnung in der Bonner Parlamentarischen Gesellschaft einige meiner Plakate von den Wänden gerissen.
Die Reaktionen meiner journalistischen Gesprächspartner waren durchaus zwiespältig. Einzelne jüngere konterten mit dem entwaffnenden Argument: »Das war vor meiner Zeit.« Andere teilten meinen Argwohn und versprachen, umgehend Alarm zu schlagen. Einige taten es dann auch.
Der Zufall wollte es, dass sich während der Kölner Kunstmesse Art Cologne an jenem Samstag die deutsche Sektion der AICA traf, einer internationalen Vereinigung von Kunstkritikern. Einstimmig wurde eine Entschließung angenommen, der auch die konservativen Mitglieder zustimmten. Jenninger wurde darin unmissverständlich aufgefordert, seine Kandidatur zurückzuziehen, mit folgender Begründung: »Jenninger ist ein Kandidat, der die kritische Repräsentanz deutscher Kunst und Kultur im Ausland am wenigsten zu leisten imstande ist.« Dieses Votum wurde mit zustimmenden Kommentaren durch die Montagszeitungen bundesweit verbreitet. Die anstehende Wahl war nun öffentlich geworden, das Konfliktpotential benannt.
Den erstaunlichsten Beitrag zur Verteidigung Jenningers lieferte der allgemein als liberal geltende Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel CDU). In den Stuttgarter Nachrichten gab er am 10. November 1997 zu Protokoll: »Es gibt nicht nur eine Freiheit der Kunstproduzenten, sondern auch eine der Kunstkonsumenten. Letztere besteht darin, dass er die Wahl hat, ein Kunstwerk aufzuhängen oder abzuhängen.« Allein, er konnte den Freund nicht mehr retten. Montag, 15 Uhr, zu Beginn der entscheidenden ifa-Präsidiumssitzung, zog Jenninger seine Kandidatur zurück. Das Unmögliche war möglich geworden, auch wenn der »Bilderstürmer« wie er von vielen seit seinen Bonner Handgreiflichkeiten genannt wurde »Hetze« und »Kesseltreiben« gegen seine Person für seinen Verzicht verantwortlich machte.
Was war 1976 Dramatisches passiert, das noch nach mehr als zwanzig Jahren so viele Gemüter erregte? Die Bonner Parlamentarische Gesellschaft ist eine Vereinigung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages aus allen Fraktionen. In ihren Clubräumen hatte ihr Mitglied Volker Hauff für Frühjahr 1976 eine Ausstellung meiner Plakate angemeldet. Während der Eröffnung ereigneten sich Dinge, die bis dahin selbst in den hitzigsten Wahlveranstaltungen niemand für möglich gehalten hätte. Der Vor stand der Vereinigung sah sich zum Schutz der Plakate und um Handgreiflichkeiten der Abgeordneten untereinander zu verhindern, vor die Wahl gestellt, entweder die Polizei zu rufen oder die Ausstellung noch am selben Abend zu beenden. Er entschied sich für die Schließung.
Der Skandal war da und fand ein weltweites Echo. Allein mehr als 1 500 Zeitungsberichte von der Prawda bis zur New York Times wurden gezählt. Die Nürnberger Nachrichten vom 1.4.1976 beschrieben den Vorfall so: »Bonn – ‚Schweinestall‘ – ‚Der Mist muß unbedingt raus getragen werden‘ – ‚Nächstens läßt der seine Hose runter und zeigt seinen nackten Hintern und sagt, das wäre Kunst.‘ Mit dieser Kritik auf den Lippen stürmten am Dienstagabend die CDU/CSU-Abgeordneten Carl-Ludwig Wagner, Philipp Jenninger, Lothar Haase und später Richard Stücklen, Carl Otto Lenz und Hansjörg Häfele eine von der SPD veranstaltete Ausstellung des Heidelberger Postermachers Klaus Staeck. (…) Die Abgeordneten kamen, so berichten Augenzeugen, während Hauff die Worte zur Eröffnung sprach, ‚laut lärmend‘ in den Vorraum des Ausstellungssaals, ‚wie ein Rollkommando‘.«
Vor allem Jenninger tat sich lautstark hervor und begann, Plakate von den Wänden zu reißen und darauf herumzutrampeln. Ein zufällig anwesendes Fernsehteam dokumentierte das ganze Spektakel. Auf ein Plakat hatten es die Parlamentarier dabei besonders abgesehen: »Seit Chile wissen wir genauer, was die CDU von Demokratie hält.« Plakate können einen oft komplizierten Sachverhalt meist nur verkürzt wiedergeben. Deshalb stellte ich anschließend mit Dieter Adelmann eine umfangreiche Dokumentation zusammen, in der anhand zahlreicher Belege nachgewiesen wurde, dass die zynische Äußerung des ehemaligen CDU Generalsekretärs Bruno Heck: »Das Leben im Stadion ist bei sonnigem Wetter recht angenehm«, keineswegs eine einmalige Entgleisung war, sondern sich durchaus bruchlos in die Kontinuität christdemokratischer Chilepolitik einfügte.
Das gleichfalls ins Visier der »Bilderstürmer« geratene Pinochet-Plakat wurde 1998/99 noch einmal aktuell. Nach Pinochets Festnahme in Großbritannien kam es zu einem langwierigen Rechtsstreit über die Frage, ob der chilenische Diktator wegen der während seiner Amtszeit in seinem Namen begangenen Morde und Folterungen doch noch juristisch zur Verantwortung gezogen werden könne oder ob ihn die diplomatische Immunität, die er bei der Rückkehr Chiles zur Demokratie ertrotzt hatte, vor gerichtlicher Verfolgung schützen würde.
Zu den empörenden Dokumenten der Zeitgeschichte gehört in diesem Zusammenhang ein Foto, das 1977 um die Welt ging. Es zeigt den Diktator General Pinochet und Franz Josef Strauß während eines Chilebesuches vor einem Denkmal mit der verräterischen Inschrift »Unsern Ahnen«.
Strauß hatte übrigens die Ausstellung, die aus der Parlamentarischen Gesellschaft in die Bremer Landesvertretung verlagert und dort vom Bremer Bürgermeister Hans Koschnick eröffnet wurde, als »politische Pornographie« eingestuft. Unter der Überschrift »Ateliertischtäter« schlug der Rheinische Merkur am 2. April 1976 in die gleiche Kerbe: »Verfolgte Kunst? Staeck ein mißachteter Moralist? Dann könnte man die krankhaften Pamphlete der totalitären Hetze von vorgestern mit den gleichen Prädikaten behängen. Hier ist mit Schere, Leimtopf, Foto, Collagenmasche widerwärtig Amorphes produziert mit Haß, Gift, Geifer. Im Grabe würden die Ahnen der politischen Karikatur rotieren über diese Machwerke, die nicht nur unfair, sondern undemokratisch, vorab unparlamentarisch sind. Wer hat der Parlamentarischen Gesellschaft, seit 25 Jahren menschliche Begegnungsstätte der politischen Streiter, das witzlose, abscheuliche Skandalum angedreht? Volker Hauff, Staatssekretär des Forschungsministers Hans Matthöfer, ist der Protektor.«
Philipp Jenninger hat nie zu erkennen gegeben, dass die Abrissaktion etwa im Affekt oder gar Rausch geschehen sei. Nicht ein Hauch von Bedauern ist belegt. Ganz im Gegenteil: Am Tage nach seiner Selbsthilfeaktion präsentierte er sich stolz einem dpa-Fotografen mit einem erbeuteten Chile-Plakat. Insider vermuteten, daß er sich vor der nahen Bundestagswahl in Anbetracht einer starken NPD-Klientel in seinem Wahlkreis Crailsheim als tapferer Kämpfer gegen die linken Nestbeschmutzer profilieren wollte. Auf die Fragen einer Hamburger Schulklasse schrieb er in einem Antwortbrief der Wahrheit zuwider: »Mehrere Plakate von Herrn Staeck verwirklichen die Tatbestandsvoraussetzungen der Beleidigung. Ihre Verbreitung ist daher auch schon mehrfach verschiedenen Personen oder Organisationen durch Gerichtsurteil verboten worden.«
Da wir belegen konnten, dass er mindestens zwei Plakate abgerissen hatte, bekam er nach dem Motto »Ordnung muss sein« eine Rechnung über DM 10,-. Weil er darauf in keiner Weise reagierte, erging schließlich Versäumnisurteil bis hin zum Vollstreckungsbefehl, was dazu führte, dass er am Ende DM 153,- zu zahlen hatte.
Philipp Jenninger fand auch Anschlusstäter ganz anderer Art. Vier Tage nach dem »Bonner Bildersturm« zertrümmerte ein extra aus dem Odenwald angereister 26jähriger Mann mit einem Ziegelstein eine Fensterscheibe meines Heidelberger Galeriebüros. Nach der Tat wartete er seelenruhig das Eintreffen der Polizei ab. Er hatte aus der Zeitung von den Bonner Ereignissen erfahren und »wollte einen eigenen Beitrag gegen diesen Schund leisten«. Um möglichen Wiederholungstätern das Handwerk künftig zu erschweren, habe ich seit jenen Tagen alle Scheiben durch Panzerglas ersetzt.
So sehr sich einige konservative Zeitungen auch bemühten, mir die Alleinschuld an dem Skandal zu geben, die Kritik an dem Verhalten Jenningers überwog bei weitem. Die immense Zahl von über 1 000 Solidaritätsausstellungen fand anschließend im ganzen Land statt, von denen einige wieder Anlässe für neue Auseinandersetzungen lieferten.
Nüchtern betrachtet verdanke ich Philipp Jenninger, einem engen Vertrauten Helmut Kohls, die erfolgreichste Public-Relations-Aktion, die jemals von den Unionsparteien für mich gestartet wurde. Diese Feststellung gehört auch zur allgemeinen Fairneß.
Alle Erinnerungen an dieses Ereignis wurden noch einmal lebendig, als Jenninger im November 1988 vor dem Bundestag seine verunglückte Rede zu den Judenpogromen hielt, die einen Tag später zu seinem Rücktritt führte. Verunglückt deshalb, weil ihm später auch vom politischen Gegner durchaus redliches Bemühen beim Ausbruch aus der monotonen Gedenkroutine bescheinigt wurde, Allein, das Thema schien ihn überfordert zu haben, Vortrag und Wortwahl waren missverständlich, konnten missdeutet werden. Botschafter in Österreich und beim Vatikan waren die nächsten beruflichen Stationen bis zu seiner Pensionierung.
Jenninger war übrigens nicht der erste, der sich an meinen Plakaten vergriff. Ein der CDU angehörender IG-Metall-Funktionär aus Leverkusen hatte zwei Wochen vor dem Bonner Eklat im DGB-Jugendzentrum Hattingen zu vorgerückter Stunde fünfzehn meiner Plakate von den Wänden gerissen. Am folgenden Tag wieder nüchtern schrieb er einen Beschwerdebrief an den DGB-Bundesvorstand. Ein Vorstandsmitglied verfasste daraufhin ein missverständliches Rundschreiben zu Plakatanschlägen in DGB-Einrichtungen, das von einigen als Verbot von Staeck-Ausstellungen missdeutet wurde. (Wenn Sie weiterlesen wollen: „Ohne Auftrag. Unterwegs in Sachen Kunst und Politik“, Seite 71)