INTERMEDIA 69

Der Name war Programm. Es begann ganz harmlos. Aber im Laufe der Zeit entwickelte sich intermedia 69 in jeder Hinsicht zu einem der größten Abenteuer, auf das ich mich je einge lassen habe. 

Der Heidelberger Kunstverein plante für Mai 1969 die Jubiläumsausstellung » Plastik der Gegenwart«, und der Gegenwartsbegriff wurde nach damaliger Heidelberger Sicht nicht gerade gegenwartsnah interpretiert. Mit der Begeisterung und Naivität von Außenseitern des professionellen Kunstbetriebes probte ich zusammen mit meinem Freund Jochen Goetze die Alternative: einen Ausblick auf die Kunst der siebziger Jahre, ohne institutionelles Netz und in Erwartung von Spenden, die dann nie flossen. 

Eingeladen wurden alle, die aus unserer Sicht der Gegenwartskunst wichtige Impulse gaben: Joseph Beuys, Dick Higgins, J. J. Lebel, Daniel Spoerri, Robert Filliou, George Brecht, Ben Vautier, Diter Roth, Nam June Paik, Takis, Kantor, Palermo, Reiner Ruthenbeck, Katharina Sieverding, Milan Knizak, LIDL, Günther Uecker, Klaus Rinke, Günter Weseler, Jochen Gerz, KP Brehmer, Sigmar Polke, Herbert Distel, Jan Dibbets, Mauricio Kagel, Many Neumeiers Guru-Guru-Band – und fast alle kamen zu einer der letz ten großen Happening/Fluxus/Performance-Veranstaltungen. Orte des Geschehens waren das Gelände der vier Studentenwohnheime am Klausenpfad und einige Heidelberger Außenposten. 

Die größten organisatorischen Probleme bereitete uns Christo. Ursprünglich wollten wir das Heim I verhüllen, einen gesichtslosen Kasten mit zwölf Stockwerken für zweihundert Studenten. Dieser Plan mußte aus bau- und feuerpolizeilichen Gründen aufgegeben werden, da sich während der Aktion nur maximal zwanzig Personen im Hochhaus hätten aufhalten dürfen. Also griffen wir einen älteren Vorschlag wieder auf, das Schloß verhüllen zu lassen. Diese Idee löste bei allen Verantwortlichen jähes Entsetzen aus. Erneute Verhandlungen mit Bauaufsichtsamt, Feuerwehr und Staatlichem Liegenschaftsamt als Vertreterin des Landes, Eigentümerin von Heidelbergs bekanntestem Wahrzeichen. Schließlich erhielten wir die lapidare Auskunft: Die Ruine sei baufällig und müßte eigentlich abgetragen werden. Außerdem hätte der Wind bei einer Verhüllung eine derart große Angriffsfläche, daß Mauern eingedrückt werden könnten. Schließlich kamen wir auf die Idee, das Amerika-Haus zu verhüllen. Christo stimmte einer 24-Stunden-Non-Stop-Aktion zu. Allgemeine Erleichterung. 

Aber die Feuerwehr pochte weiter auf ihre DIN-Vorschriften. Danach kommen für von Menschen bewohnte Gebäude nur nichtbrennbare Materialien in Frage: Stein, Glas, Keramik, Stahl und so weiter. Nach langwierigen Verhandlungen einigten wir uns auf schwer entflammbares Material. Die BASF hatte gerade eine neue Gitterfolie entwickelt, die noch wenig erprobt war. Über die Firma Wülfing & Hauck spendete sie davon eine Lastwagenladung, ein armdickes Nylonseil und viele Rollen Spezialklebeband. 

Christo traf einen Tag vor dem Countdown in heiterer Stimmung in Heidelberg ein. Aufbautag war der 15. Mai, Christi Himmelfahrt, auch Vatertag genannt. Wir begannen um 6 Uhr morgens. Von den benötigten fünfundzwanzig Studenten fanden sich nur fünf ein. Dafür war eine Lehrerin bereit, mit ihrer Klasse von dreizehnjährigen Schülern zu helfen. Zunächst wurden die schweren Folienrollen aufs leicht abschüssige Dach geschleppt. Noch auf dem Dach wurde unter Christos Anleitung Bahn um Bahn mühselig mit Draht aneinander geknüpft. Am späten Nachmittag sollte der mit Kanthölzern beschwerte große Vorhang dann hinabgelassen werden. Aber schon nach wenigen Metern verfing sich die Riesenhaut an zwei für die Straßenbeleuchtung von Haus zu Haus gespannten Drähten. Alles zurück aufs Dach. Wieder verging kostbare Zeit. Bei einigen kamen Zweifel an Christos technischen Planungen auf, zumal die schwierigsten Probleme noch zu lösen waren. 

Ein Student hatte vorsorglich seine Bergsteigerausrüstung mitgebracht. Unter den gespannten Blicken der anderen erklomm er den Dachfirst. Im Bewußtsein seiner Unersetz barkeit, frei in der Halterung schwebend, gab jetzt er die Kommandos und ließ sich Rolle um Rolle reichen. Unter lauten »Vorsicht“-Rufen sauste in dichter Folge Bahn für Bahn nach unten. Inzwischen war es dunkel geworden, und nach drückender Hitze kündigte sich ein Gewitter an. Aufkommender Sturm blähte die Bahnen wie Mullbinden, die über ein Geländer zum Trocknen aufgehängt sind. Immerhin ließ sich so das Endstadium in groben Umrissen erkennen. 

Inzwischen hatten sich die angrenzenden Straßen mit immer mehr Schaulustigen gefüllt. Heimkehrende Vatertagsgruppen mit entsprechend schweren Köpfen begannen immer heftiger mit neugierigen Bürgern und agitierenden Studenten über Sinn und vor allem Unsinn dieses Himmelfahrtsereignisses zu spekulieren. Die Polizei hatte vorsorglich versucht, die Fahrbahn abzusperren, um wenigstens die Fahrzeuge aus jedem Streit herauszuhalten. Einige Volltrunkene rissen immer wieder an den noch frei herabhängenden Bahnen. Ein Teil unserer Mannschaft wurde abgestellt, um mit der immer aufgebrachteren Menge zu diskutieren und so wenigstens die bisherige Arbeit zu sichern. Nur einer blieb völlig gelassen, als ginge ihn das Ganze gar nichts an: Christo. Geduldig versuchte er, nun von unten Bahn um Bahn mit Draht zu verbinden, aus dem wirren Durcheinander eine halbwegs glatte Fläche zu schaffen. 

Andere bemühten sich, das Nylonseil mehrfach um das ganze Haus zu schlingen und den weiter oben wild durch- und übereinanderhängenden Bahnen auf diese Weise Halt zu geben. Das gelang auch einigermaßen. Deutsche Ordnung war in das ganze Unternehmen allerdings nicht mehr hineinzubringen. Die Bandage glich auch nach Mitternacht mehr einem Notverband mit vielen vergessenen Flächen als einer perfekten Umhüllung. Ein Hauch von Trauer, von Verwundung lag über der Szene: keine stol ze, heroische Geste – eher ein hilfloses Signal von Verletzbarkeit. Wahrscheinlich war es Chri stos unvollkommenstes Werk. Es paßte aber wie kein anderes in die Zeit und schuf so eine Faszination, die der Perfektion nur selten gelingt. 

Drei Tage verteidigten wir das Erreichte gegen den sich bedrohlich steigernden Volkszorn. Die von unten leicht erreichbaren Flächen waren bald mit Inschriften aller Art besprayt: »Kunst als Weißmacher«, »Publicity-Gag für die Amis«, »Kultur+Napalm! Amis raus aus Vietnam!« Dem studentischen Bewußtseinsstand Ende der sechziger Jahre gemäß, war natürlich bald die CIA als Urheberin des ganzen Spektakels ausgemacht, sie also galt es von Stund an stellvertretend zu bekämpfen. 

Schließlich wuchs auch unsere Sorge, jemand könnte die Schwerentflammbarkeit des Materials testen und dem Kunstwerk mit einem Feuerzeug zu Leibe rücken. Zwar hatte die Feuerwehr vor der Verhüllung vorsorglich zwei C-Rohre diskret im Haus verlegt und hielt sich die ganze Zeit über mit einem Zug im Hof in Bereitschaft. Gegen mutwilliges Kokeln wäre aber auch sie machtlos gewesen. Besondere Ängste plagten die benachbarte Deutsche Bank. Im Falle eines Brandes befürchtete sie die Beeinträchtigung ihrer Finanztransaktionen durch das Entstehen von Salzsäuredämpfen. 

Nach dem Abbau mußten wir noch einmal aufs Dach: mit den Hauseigentümern und einem Sachverständigen für Versicherungsschäden. Während der Arbeit waren durch unsachgemäßes Schuhwerk Schieferplatten im Wert von mehr als DM 10 000,- zerbrochen, die wir als Veranstalter ersetzen sollten. Wir trösteten uns schließlich damit, daß nur Sachschaden entstanden war. Erst nach dem großen Ereignis dämmerte uns, welche unabsehbaren Folgen es gehabt hätte, wenn auch nur einer der Schüler das abschüssige Dach im freien Fall verlassen hätte. 

Auch auf dem Gelände der Studentenheime am Klausenpfad, dem eigentlichen Aktionsort, hatten die Ereignisse ihre eigene, nicht mehr steuerbare Dynamik entwickelt. Immerhin waren für die drei Eröffnungstage mehr als fünftausend Leute aus halb Europa angereist und trugen so zur Finanzierung des Ganzen bei. Unter den Gästen war eine kunstsinnige Motorradgruppe aus Bochum, die mit ihren schweren Maschinen den ebenerdigen Theatersaal zu ihrer Teststrecke erklärten und das Publikum umkreisten. Während einige Besucher die Eisschränke der Studentenküchen leerten, lieferten sich andere im städtischen Casino eine Tortenschlacht. 

Unberührt von dem allgemeinen Chaos arbeiteten Günther Uecker an einer Pfahlgrube, Claus Böhmler an seinen Tesa-Filmen, Tony Morgan an Polyesterplastiken, Klaus Rinke an einer Wasserfontäne, bewegte sich K. H. Hödicke auf Stelzen durchs Gelände, zeigten Palermo, IMI Knoebel und IMI Giese, Lutz Mommartz, Werner Nekes und Chris Kohlhöfer ihre Filme, ich kochte in einer Waschmaschine einen Heidelberg-Ölschinken sauber. Schließ lich wurden alle in der Mensa von Daniel Spoerri mit einem Spezialgulasch bekocht. Nach einer der Zeit gemäßen wilden Diskussion mit Bernd Höke kehrte vorübergehend Ruhe ein bei der Aufführung von Michelangelo Pistolettos großartiger Theatergruppe LO ZOO. 

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn das Gesundheitsamt zu diesem Zeitpunkt gewußt hätte, daß einer der Bochumer Motorradffahrer von einem Aşientrip eine quarantänepflichtige Infektionskrankheit mitgeschleppt hatte. Der Krankheitsverdacht bestätigte sich glücklicherweise erst zwei Tage nach dem Ende von intermedia 69. 

Was wir erst später bemerkten: Ein besonders »solidarischer« Kollege hatte an allen großen Scheiben des Clubhauses seine Visitenkarte in Form eines banalen Flugblattes hinterlassen, befestigt mit Wasserglas, nicht mehr zu entfernen. Deshalb mußten später sämtliche Thermopenscheiben ausgewechselt werden. Es dauerte Jahre, bis der dadurch ausgelöste Streit mit Versicherungen und Hausverwaltung beigelegt werden konnte. Eine weitere bittere Erfahrung blieb uns nicht erspart: Allzu viele Besucher und Akteure sahen ihre ganz persönliche Chance kreativer Selbstverwirklichung ausschließlich in der Zerstörung. Umgeknickte Bäume, verwüstete Rasenflächen und in die Furniere des Clubhauses gekratzte Parolen waren nur einige Schäden, für die wir als Veranstalter des Festivals aufkommen mußten. 

Immerhin war es uns gelungen, die Heidelberger Idylle für kurze Zeit empfindlich zu stören und die Stadt für wenige Tage auf den Kopf zu stellen. Christo selbst kommt aller dings auf sein unvollendetes Frühwerk bis heute nur ungern zu sprechen – was unserer Freundschaft jedoch nicht geschadet hat. 

Quelle: Klaus Staeck, „Ohne Auftrag. Unterwegs in Sachen Kunst und Politik“ , Steidl Verlag Göttingen 2000