Immer, wenn ein Skandal oder auch nur ein Skandälchen von Künstlern ausgelöst wurde, kann ich auf den Anruf eines Redakteurs warten, um danach befragt zu werden, wie es denn derzeit um die Kunstfreiheit in Deutschland bestellt sei. Mein Standardsatz lautet: „Gut, weil ich volles Vertrauen in die deutschen Gerichte habe.“ In 41 Verfahren, die gegen mich eröffnet wurden, bekam ich Recht. Die Kläger, darunter große Namen der deutschen Rüstungsindustrie, konnten noch so viel Geld für ihre Anwälte aufbieten – sie kamen nicht an gegen Artikel 5, Absatz 3 unseres Grundgesetzes: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.
Aber nie war die Freiheit der Kunst eine totale Freiheit, denn sie gilt nur in den Schranken, in denen sie nicht gegen allgemeine Gesetze, gegen den Jugendschutz und gegen die Rechte der persönlichen Ehre verstößt und den Prinzipien unserer Verfassung nicht widerspricht. Doch in diesem Rahmen hat jeder das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Man muss sich also nicht den Status des Künstlers zulegen, um das Grundrecht zu beanspruchen. Aber man muss den Gegenwind aushalten, wenn Wort und Bild, vor allem in satirischem Gewand, den, der sich angegriffen fühlt, empört und in Wut versetzt.
„Satire ist kein Himbeerwasser“, sagte Heinrich Böll, der als Autor und Gesellschaftskritiker gegen den restaurativen Geist der jungen Bundesrepublik wie gegen die antilinke Hysterie in den 1970ger Jahren anschrieb und dafür von der Springerpresse, einigen Politikern und ihren Claqueuren bis zu seinem Tod mit Hetzkampagnen belegt wurde. Sei künstlerisches und politisches Prinzip „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“, hatte einen hohen Preis, brachte ihm sogar den Verdacht ein, „geistiger Sympathisant des Terrorismus“ zu sein. Böll hat die Freiheit der Kunst in voller Verantwortung ausgereizt und die bundesdeutsche Demokratie so auf die Probe gestellt.
Daran muss ich immer wieder denken, wenn heute fast jeder Tabubruch mit dem Anspruch einer satirischen Meinungsäußerung daherkommt. Ich wünsche mir mehr öffentliche Diskussion über die Maßstäbe von Satire und Verantwortung. Satire ist die Verteidigung der unverschuldet Schwachen gegen den Übermut der Starken. Für mich muss Satire immer einen Erkenntniswert haben, etwas offenlegen und deutlich machen.
Gerade in der „Digitalmoderne“ der sogenannten sozialen Medien haben sich die Grenzen des Zeig- und Sagbaren bis zum Exzess geöffnet, da Autoren von Hasskommentaren und Bildobszönitäten in der Anonymität verschwinden können. Gleichzeitig, so schreibt Hanno Rauterberg in seinem Essayband „Wie frei ist die Kunst?“ entstehe ein „Klicktivismus, der rasch zum Protest der Vielen anschwillt.“ Dies könne sich auch gegen die Duldung von künstlerischen Präsentationen wenden, wenn sich im digitalen Raum die Einzelnen zu Affektgemeinschaften zusammenfinden, die sich in ihrer Empfindlichkeit bestätigen – das könne zur Gefahr für Kunstwerke werden, „zur Einhegung der Wirksamkeit von Kunst.“
Kunstfreiheit für Nazi-Kunst?
Eine Diskussion über Grenzen der Kunstfreiheit habe ich 1987 mit angestoßen, als bekannt wurde, dass die Kunstsammler Irene und Peter Ludwig ihren von Arno Breker geschaffenen Porträtbüsten im neuen Kölner Museum Ludwig einen Platz geben wollten. Der Sammler hatte zuvor in Interviews beklagt, dass aus „mangelnder Liberalität“ in keinem Museum des Landes Kunst aus der Zeit des Nationalsozialismus ausgestellt sei. Er halte dies für eine „Blickverengung, zwölf Jahre aus der deutschen Geschichte ausradieren zu wollen.“ Man muss dazu bemerken, dass Hitlers Lieblingsbildhauer nach dem Krieg keineswegs unter Auftragsmangel litt. Dafür hatten unter anderem die Kanzler Adenauer und Erhardt sowie Herrmann Ludwig Abs und nicht zuletzt Peter Ludwig gesorgt. Unseren Aufruf „Keine Nazi-Kunst ins Museum“ hatten wir damit begründet, dass sich diese Kunst in der Hitlerzeit mit Einschüchterung, Terror und Verbrechen Eingang in die Museen verschafft hatte. Die bedeutenden Künstler des 20. Jahrhunderts waren als „entartet“ diffamiert, verfolgt und ins Exil vertrieben worden, während sich eine willfährige Staatskunst breit machen konnte, die der Nazi-Ideologie folgte. Hunderte Künstler, Kritiker und Museumsleute schlossen sich damals unserem Aufruf an. Doch habe ich mich nie der Illusion einer langfristigen Wirkung solcher Proteste hingegeben. Die Breker-Ausstellung von 2006 in Schwerin lieferte den Beweis. Trotz aller Proteste entschieden sich der Oberbürgermeister, der Direktor des Schleswig-Holstein-Hauses und die Landesregierung für die Provokation, Breker die erste große Ausstellung seit dem Kriegsende im öffentlichen Raum zu widmen. Eine Reproduktion meines kritischen Kommentars im Gästebuch wurde im nachgeschobenen Katalog wie eine Trophäe benutzt. Für die Stadtoberen war der touristische Erfolg am Ende wichtiger als der kulturpolitische Flurschaden unter der Flagge „Freiheit auch für Nazikunst“.
Kunstfreiheit über nationale Grenzen hinweg
Wenden wir uns heutigem zu, dann geht es nicht zuletzt um die Verteidigung der Freiheit der Kunst und des Wortes in aller Welt. Denn wer die Privilegien der Kunstfreiheit genießt, der hat eine Pflicht: diese Freiheit auch für andere, gleich wo sie leben, zu verteidigen. In meinem Amt als Präsident der Berliner Akademie der Künste konnte ich vor einigen Jahren Kollegen einladen, die als Schriftsteller, Karikaturisten, Kuratoren und bildende Künstler bedrängt wurden, Bedrohungen und auch Verhaftungen erfahren hatten. Wir verschafften ihnen in Veranstaltungen die Aufmerksamkeit eines großen Publikums, um Ihnen durch den Auftritt in der Öffentlichkeit mehr Schutz zu bieten. Schon mein Vorgänger György Konrád hatte Salman Rushdie eingeladen, gegen den 1989 das Todesurteil einer Fatwa verhängt worden war. Ich bot dem Mafia-Aufklärer Roberto Saviano, dem gerade der italienische Innenminister Salvini die Aufhebung des Polizeischutzes angedroht hat, ein großes Podium. Der dänische Karikaturist Kurt Westergaard kam in die Akademie. Seine Mohammed-Karikaturen in der Zeitung Jyllands-Posten hatten bleibende Folgen: Einen Anschlag und seit Jahren die ständige Bewachung seines Hauses. Zu den Gästen gehörte auch der chinesische Künstler Ai Weiwei, kurz nach Aufhebung seines Hausarrests.
Und stets waren es Künstler aus Russland, denen sich die Akademie widmete. Als in den 1990ger Jahren über fünfzig Stipendiaten aller Kunstgattungen aus Moskau für ein Vierteljahr nach Berlin eingeladen wurden, ahnte in dieser postsowjetischen Aufbruchphase noch niemand die Restriktionen der kommenden Zeiten. Davon berichtete 2011 in der Akademie der Kurator Andrej Jerofejew, den ein Moskauer Gericht für seine Ausstellung „Verbotene Bilder“ zu einer hohen Geldstrafe verurteilt hatte.
Gemeinsam mit seinem Mitstreiter Jurij Samodurow wurde er angeklagt, religiösen Hass geschürt und einer kriminelle Organisation zum Zwecke der Zerstörung der geistigen Werte Russlands gebildet zu haben. Es waren wohl einflussreiche Kirchenvertreter im Spiel, die den Prozess verlangten.
Ähnliches muss man auch hinter den Repressionen vermuten, denen gegenwärtig der Regisseur Kirill Serebrennikow ausgesetzt ist, dem bis zu 10 Jahre Haft drohen.
Ihm und drei Kollegen wird bandenmäßiger Veruntreuung von stattlichen Fördermitteln unterstellt, obwohl es nachweislich eine gut besuchte Inszenierung gab, die angeblich nie stattgefunden haben soll. Videoaufnahmen, Rezensionen, Zuschauerberichte, Gastspiele in Riga und Paris, eine Nominierung für den Russischen Nationaltheaterpreis „Golden Mask“ und nicht zuletzt der Spielplan des Gogol Center in Moskau beweisen die Absurdität der Vorwürfe. Isolierung und Hausarrest vor dem Prozess konnten jedoch nicht verhindern, dass sich eine große internationale Solidaritätsbewegung für Serebrennikow, einen der berühmtesten russischen Gegenwartskünstler, gebildet hat. Die russische Staatsanwaltschaft wird aufgefordert, die Strafverfolgung gegen ihn einzustellen und die fadenscheinigen Vorwürfe fallenzulassen.
Und ich erinnere schließlich an das Schicksal des zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilten Filmregisseurs Oleg Senzow, der als Ukrainer von der annektierten Krim nach Moskau verschleppt und als Terrorist angeklagt wurde. Er hat gerade einen 144 Tage dauernden Hungerstreik überlebt. Die weltweiten Proteste von Filmschaffenden, Akademien und Hochschulen, die Mahnwachen vor der Russischen Botschaft in Berlin haben bis jetzt nichts bewirken können. Doch das Urteil gegen den angeblichen Terroristen, dieser Willkürakt gegen einen unbeugsamen Filmkünstler, muss aufgehoben werden. Es liegt auch als schwere Last auf den deutsch-russischen Beziehungen.
Der Beitrag erschien am 10.12.2018 unter dem Titel „Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3 – Wer die Privilegien der Kunstfreiheit genießt, hat die Pflicht, diese Freiheit auch für andere, gleich wo sie leben, zu verteidigen“ in der Zeitung „Petersburger Dialog“