Kolumne vom 31. Mai 2007
Einmal im Mittelpunkt stehen. Und zwar vor Millionen von Zuschauern. Aus der Anonymität der Masse ausbrechen. Kein Problem. Mit Googles neuestem Gaffertool „Street View“ kann das von heute auf morgen passieren.
Wer das Glück hat, von der hochauflösenden Panoramakamera eines Google-Vans beim Sonnenbaden, beim Nasebohren oder beim Küssen geknipst zu werden, dem ist ein Stammplatz in Googles aktueller Straßengalerie ebenso sicher wie die Aufmerksamkeit der ganzen Welt. Ob man will oder nicht. Ich will nicht.
Aber ich werde natürlich ebenso wenig gefragt wie all jene, die seit Ende Mai in New York und vier weiteren US-Metropolen des Suchmaschinengiganten ins Visier genommen werden. Schließlich wird ja ausschließlich der öffentliche Raum abgelichtet. „Die Szenerie ist nicht anders als jene, die jeder wahrnehmen kann, wenn er die Straße entlanggeht“, gab sich eine Pressesprecherin von Google ganz unschuldig. Dass auf der stark befahrenen Datenautobahn bald jedermann jederzeit jede Straße, jede Häuserfront und jeden Parks besichtigen kann, ohne selbst besichtigt zu werden, muss doch die beobachteten Passanten nicht stören. Oder?
Längst tummeln sich redselige Spanner in Blogs wie StreetViewVoyeur oder StreetViewFun, um sich dank scharfer Schnappschüsse über ihre Mitmenschen zu amüsieren und ihnen unglaubliche Geschichten anzudichten. Google öffnet hier nicht nur schmutzigen Fantasien, billiger Schadenfreude oder übler Nachrede die digitalen Tore. Denn was der Privatwirtschaft recht ist, wird dem Staat nur billig sein. Vom dreidimensionalen Blick durch die Gassen dieser Welt bis zur Übertragung unseres Alltags in Echtzeit sind wir nach Expertenmeinung nur noch eine Dekade entfernt. Wenn also nächstens per Live-Stream all unsere öffentlichen Schritte und Fehltritte verfolgt werden können, dann wird sich Bundesinnenminister Schäuble über die Sicherheit in unserem Lande kaum mehr Sorgen mehr machen müssen.
Allen potenziellen Spionageopfern darf angesichts solcher Wahrheiten und Visionen um die persönliche Freiheit schon mal angst und bange werden. Googles Firmenmotto „Tu nichts Böses“ wirkt da nicht nur naiv, sondern auch scheinheilig. Erst jüngst kürte die britische Bürgerrechtsorganisation Privacy International den milliardenschweren Internetriesen zum „Feind der Privatsphäre“. „Vage, unvollständig und missverständlich“ seien Googles Regeln zum Umgang mit Nutzerdaten. Bis vor kurzem hielt der Datenkrake neben den Suchbegriffen sogar die Computeradresse des Suchenden fest in ihren digitalen Tentakeln. Aus Sicherheitsgründen, wie die kalifornische Konzernzentrale beschwichtigend einräumte.
Mit der Formel Sicherheit vor Privatsphäre lässt sich in Zeiten akuter Terrorgefahr manch bedenkliche Daten- und Personenüberwachung rechtfertigen. Google hat mit seinen benutzerfreundlichen Recherchediensten natürlich nur den Mehrwert für den Nutzer im Sinn. Und der deutsche Innenminister mit seinen heimlichen Online-Durchsuchungen und Videoüberwachungen nur den Schutz der Bürger im Blick. Doch wer nur noch das schnelle Geld oder die größte Sicherheit im Auge hat, kann auch mit Blindheit geschlagen sein. Und zwar für die Freiheit jedes Einzelnen. Und die ist mir mehr wert als die totale Sicherheit, die es ohnehin nicht gibt.