Kolumne April 2008
Stell’ Dir vor, die 17 Angestellten einer der rund 45 Hamburger Lidl-Filialen wählen zum ersten Mal einen Betriebsrat und niemand bekommt es mit. Dabei grenzt diese mutige Aktion schon fast an eine Revolution. Anlass genug für eine breite Berichterstattung – sollte man meinen. Dennoch Fehlanzeige.
Sieht man von einer Minimeldung in der Hamburger Morgenpost und einem Bericht in der taz Hamburg einmal ab. Schließlich existieren in den knapp 3000 Läden des Billigheimers nicht mehr als eine Handvoll Arbeitnehmervertretungen.
Diesmal drohten die Vorgesetzten ihren Untergebenen in „Vier-Augen-Gesprächen“ angeblich mit Schließung der Filiale, wie seiner Zeit in Calw geschehen, und mit der Streichung der ohnehin schon schlecht bezahlten Überstunden. Die billige Rache des Konzerns traf kurz nach der Wahl schließlich den einzig und allein noch kündbaren Lehrling in seiner Probezeit. Laut Geschäftsführung habe er die „Anforderungen nicht erfüllt“.
Klar! Wer nicht ohne Pause an der Kasse sitzen, Waren einsortieren oder von versteckten Kameras überwacht und verdeckt agierenden Ladendieben getestet werden möchte, der erfüllt natürlich nicht die „Anforderungen“ von Europas filialstärkstem Billig-Discounter und passt nicht in das Bild vom engagierten Mitarbeiter. Wer nach eigenen Angaben im letzten Jahr rund 44 Milliarden Euro Umsatz verbucht, kann sich selbstbewusste Angestellte wirklich nicht leisten. Denn nach Lidls Ladenphilosophie ist vor allem die „Zufriedenheit unserer Kunden … das wichtigste Ziel.“ Da die meisten Kunden aber nur zufrieden sind, wenn niedrigste Preise winken, verzichtet der „spendable“ Supermarkt ganz „bewusst auf einen übertriebenen Aufwand in der Warenpräsentation und der Filialausstattung.“ Und auf eine „übertriebene“ Fürsorge und Entlohnung des „gut und günstig“ ausgebeuteten Personals.
Lidl ist kein Einzelfall, sondern höchstens ein Paradefall. Auch bei Aldi, Norma und Kik genießt der Profit die wahre Priorität. Mit Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder bezahltem Urlaub dürfen in den Billig-Ketten nur die wenigsten rechnen. Dafür aber mit einem Stundenlohn, auf den selbst Hartz IV-Empfänger nicht neidisch sein können. Mit oftmals weniger als fünf Euro pro Arbeitsstunde kann man sich weder einen Schnupfen noch den dringend benötigten Urlaub leisten. Verkäufer wie Zulieferer zahlen mit ihrer Gesundheit und ihrem geringen Verdienst letztlich jene Summe, die der „zufriedene“ Kunde ruhigen Gewissens einspart. Und nicht die gut verdienenden Spitzenmanager, die die Angst ihrer Angestellten vorm Verlust des Arbeitsplatzes ebenso auf ihrer Gesamtrechnung haben wie die ständig steigenden Gewinne. Der nächste „Dumme“ wartet schon auf den Fluren der Agentur für Arbeit, die ihre hilfesuchenden Schützlinge auch gerne mal an den mindestens ebenso brutalen Billig-Flieger Ryanair vermittelt. Wem also beim leisesten Widerstand die fristlose Kündigung und danach eventuell der nächste Knebel-Job droht, der hält auch seinen Mund, wenn er während eines harten Arbeitstages nur noch eingeschränkt seinen Grundbedürfnissen nachgehen darf.
Genau deshalb brauchen die gedemütigten Geringverdiener nicht nur juristische Rückendeckung, sondern auch mediale Solidarität, Anzeigenkunden hin oder her. Aber auch Unterstützung von Millionen Kunden, denen Menschen- und Arbeitsrechte mehr wert sein sollten, als ein paar gesparte Euros mehr in der Haushaltskasse. Auch der Kunde macht sich mitschuldig.