Kolumne Juli 2008
Freudentränen auf dem Siegertreppchen sind wir bei Olympischen Spielen ja gewohnt. Doch als der chinesische Gewehrschütze Qinan Zhu bitterlich weinte, weil er sich für seine Silbermedaille schämte, musste selbst der Zuschauer schlucken: Olympia ist eben nicht nur ein Fest der Freude, sondern für viele nur ein Fest der Gewinner.
Auch wenn am Wochenende in Peking die letzten Goldmedaillen vergeben worden sind, wird der gnadenlose Kampf um Platz 1 in aller Welt weitergehen. Denn der zweite Rang ist ja anscheinend nichts mehr wert und nur dabei zu sein, ist längst nicht mehr alles. Obwohl nur Zehntelsekunden oder Zehntelprozente den Verlierer vom Sieger trennen, liegen letztlich doch Welten zwischen ihnen. Was allein schon die Staffelung der Preisgelder beweist. Während der Wimbledonsieger etwa eine Million Euro kassiert, muss sich der bloße Finalist mit der Hälfte begnügen. Nur der Champion taugt dann noch als wandelndes Werbebanner, strahlt in die Kameras und streicht Sponsorengelder ein. Aber hat er wirklich so viel mehr geleistet als sein sportlich wie finanziell unterlegener Gegner? Wohl kaum. Aber wen interessiert schon, dass Verlierer genauso hart trainieren wie Sieger. Niemand.
Kein Wunder also, dass es von allen Seiten vorwurfsvoll heißt: Nur Zweiter. Google liefert für diese Misserfolgsformel über 400.000 Treffer. Und sie verfehlt ihre Wirkung weder bei Spitzensportlern noch bei anderen Karrieristen. Weshalb gedopt und gedoktert wird, was Körper und Psyche gerade noch oder nicht mehr aushalten. Während sich manche Spitzensportler mit EPO und anderen Drogen aufputschen, schlucken einige Spitzenmanager fleißig Betablocker und andere Tranquilizer, um dem Leistungsdruck standzuhalten. Dabei steht der beruflich oft ebenfalls überforderte Normalbürger seinen Vorbildern in nichts nach. Macht sich genauso von Medikamenten, Medien und Meinungen abhängig und trichtert dem Nachwuchs ein, das die Note Eins das Maß aller Dinge und ein Leben ohne Abitur nichts mehr wert ist. Nicht ohne Grund sind T-Shirts für Erstklässler mit dem Logo „ABI 2020“ bei besonders ehrgeizigen Eltern derzeit so begehrt.
Freude über nur gute Leistungen darf in einer erfolgsgewöhnten Gesellschaft dann gar nicht erst aufkommen. Weshalb DFB-Sportdirektor Matthias Sammer es auch „nicht richtig“ finden konnte, „dass Spieler in ein EM-Finale gehen, das Endspiel verlieren, und sich dann auf der Berliner Fanmeile feiern lassen.“ Wie soll er seinen Nachwuchskickern von der U19 solch ein abnormes Verhalten auch erklären und aus ihnen dann noch „vor einem Finale den letzten Siegerinstinkt“ herauskitzeln. Stille Scham bei Niederlagen und stures Streben nach dem Sieg heißt das Lebensprinzip der Übermotivierten.
Freilich muss der Wille zur Bestleistung geweckt und gefördert werden, sonst stehen die Räder still. Das war zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftssystemen so. Wer im ehemaligen Arbeiter-und-Bauernstaat auf der „Straße der Besten“ landen wollte, musste den Plan genauso übererfüllen wie die Arbeiter und Angestellten jenseits der Mauer. Aber wenn das heute die Ausgrenzung der Schwächeren oder Burn-Out-Therapien zur Folge hat, dann landen bald Millionen von Menschen statt auf der „Straße der Besten“ im Straßengraben. Wer für seine individuellen Anstrengung keine Anerkennung findet, dreht in seinem Hamsterrad bald durch. Leistung muss sich wirklich wieder lohnen. Aber nicht nur finanziell, sondern auch sozial.