Kolumne Juni 2010
Eine Stunde nach Horst Köhlers Rücktritt kamen die ersten Interviewanfragen. Kaum Zeit, um tiefgreifend ein schockierendes Ereignis zu reflektieren. Als ich einen Hauch von Verständnis für diesen Schritt äußerte, ließen mich meine Partner schnell fühlen, dass sie andere Antworten erwartet hatten. Denn die ersten Online- Kommentare hatten ihr vernichtendes Urteil ad hoc bereits gefällt. Da wurde mit einer Gnadenlosigkeit ohnegleichen ein Mann öffentlich vorgeführt, der eben noch die Nr. 1 im Staate war, nun aber als „Weichei“ gleich mehrfach der „Fahnenflucht“ überführt galt.
Aus dem Vokabular, das seinen Abgang begleitete: „beschämend“, „kümmerlich“, „illoyal und feige“, „Schönwetterpräsident“, „Heulsuse“ und „weidwundes Tier“. Zu seiner persönlichen Charakterisierung: „flippig“, „täppisch“, „hölzern“, zu „sensibel“, „schnell beleidigt“, was zum „panikartigen Rückzug“ und zur „Verzweiflungstat“ führte. Kein Wunder, dass man ihn gar zum „Antidemokraten“ promovierte. Selbst der Vergleich mit dem zum Ende seiner Amtszeit wohl dementen Heinrich Lübke macht bald die mediale Hämerunde. Mit Köhlers Rücktritt war das deutsche Volk offenbar von einer schweren Last befreit.
Wer sich dieser Tage jedoch durch Leserbriefspalten kämpft, bekommt ein anderes Bild. Die durch Umfragen vor und nach dem Rücktritt belegte Volksnähe, hier findet sie ihren teils wütenden Niederschlag, wenn viele Köhler „gegen den ganzen verrotteten Politikbetrieb“ als ehrliche Haut unter Geiern verteidigen. Jedenfalls markieren die diametralen Sichtweisen zwischen den Regierenden und den Regierten eine tiefe Kluft, die sich eine Demokratie auf Dauer nicht leisten kann.
Es heißt nun, der schwäbische Protestant sei als Seiteneinsteiger dem höchsten Amt wohl nicht ganz gewachsen gewesen. Zugegeben, ein begnadeter Redner war er gewiss nicht. Doch hat ihm dieses vermeintliche Manko möglicherweise den Zugang zu jenen Menschen erleichtert, die man gewöhnlich zu den „einfachen“ zählt.
Köhler wurde für das Politikgeschäft und den Medienzirkus zunehmend inkompatibel. Nicht zuletzt, weil die „Entscheider“ schon seit geraumer Zeit gar nicht mehr wissen wollten, was er zu sagen hatte. Als er zu Gunsten des Klimas die Erhöhung der Benzinpreise forderte, beging er für die Repräsentanten einer autokranken Nation den absoluten Sündenfall. Für sein besonderes Thema „Afrika“ interessiert sich hierzulande in Wahrheit auch kaum jemand aufrichtig, und als er die internationalen Finanzmärkte als Moloch bezeichnete, war er endgültig isoliert unter jenen, die ihn seinerzeit ins Schloss Bellevue befördert hatten. Er sang schon länger falsch im chorus mysticus der Beschwichtiger und vermeintlichen Krisenbewältiger. Von den eigenen Leuten politisch im Stich gelassen, störte er die Routiniers der Macht mehr und mehr. So blieb ihm – verstörend auch für mich, weil in dieser politischen Lage nicht zu verantworten – wohl am Ende nur noch der Griff zur Notbremse auf freier Strecke.
Doch Teile der etablierten Politik sind in ihrer Selbstbezogenheit für Signale dieser Art längst taub geworden, unfähig den präsidialen Paukenschlag zu verstehen. Nach der Methode business as usual gaben sich alle Beteiligten ohne Zögern ihrem Lieblingsspiel hin, dem heiteren Namenraten für die nächste Runde. Der als Nachfolger des „glücklosen Politamateurs“ erneut ausgekungelte Allzweckpolitiker soll wie gehabt aus der Mitte der Firma kommen, damit künftig alles wieder seine Ordnung hat. Welche Ordnung? Nichts ist erledigt!