Blinde Justiz

Kolumne Juli 2010

Justitia hat nicht ohne Grund die Augen verbunden. Ungeachtet des Ansehens der Person soll sie nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage ihr gerechtes Urteil fällen. So das Idealbild der Antike. Doch wird dieses Bild durch die Wirklichkeit oftmals konterkariert. Justitias Jünger in den USA haben eben erst wieder bewiesen, wie blind und einseitig Richter urteilen können. 

Als sie Obamas Bohrverbot kassierten, drückten sie gegenüber der mächtigen Öl-Multis beide Augen zu. „Die Kläger machen geltend, dass sie irreparable Schäden wegen des Moratoriums erlitten haben und erleiden werden. Das Gericht sieht das auch so“, befand US-Richter Feldman in seiner fatalen Urteilsbegründung. Dass täglich fast zehn Millionen Liter Rohöl ins Meer schießen und die Natur irreparable Schäden erlitten hat und weiterhin erleiden wird, liegt außerhalb seines Blickfelds. Das ökonomische Untergangszenario der Mineralölgesellschaften kann er sich besser vorstellen als die sichtbare ökologische Katastrophe. Als hätte es die Bilder verseuchter Küstenstriche und verendender Vögel und Fische nie gegeben, darf im Pazifik mit vollem Risiko weitergebohrt werden.  

Seine Kollegen vom Supreme Court scheinen ebenso blind für die Folgen ihrer Urteile zu sein. Das Grundrecht auf privaten Waffenbesitz wog für die knappe Mehrheit der obersten US-Richter deutlich schwerer als Statistiken, die in den Vereinigten Staaten täglich 300 Schusswaffentote und fast doppelt so viele Schusswaffenverletzte verbuchen. Wenn Chicago den Besitz von Handfeuerwaffen freigeben muss, dürfte in der US-Hauptstadt des Verbrechens die Mordrate wieder in die Höhe schnellen. Aber was zählt im Wilden Westen schon der allgemeine Schutz von Menschenleben gegen das individuelle Recht auf Selbstverteidigung.

Nicht nur im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind einige Richter mit Blindheit geschlagen. Auch der Oberste Gerichtshof in Indien ließ nun ungewöhnliche Milde walten. Während nach dem Chemieunfall in Bhopal von 1984 Tausende von Menschen starben und über eine halbe Million immer noch unter den Folgen gesundheitlich leiden, kommen die Manager der Pestizidfabrik mit heiler Haut davon. Wegen unterlassener Hilfeleistung und nicht wegen unbeabsichtigter Tötung müssen sie höchstens mit zwei Jahren Gefängnis rechnen. Das Fabrikgelände ist natürlich immer noch nicht verseucht und den Opfern mit den Entschädigungszahlungen kaum geholfen. 

Und in Deutschland? Da sorgt das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit seinem jüngsten Urteil für freie Fahrt von Fernbussen. Als ob es auf deutschen Autobahnen nicht schon genügend Staus und Stinker gäbe, sollen noch mehr Fahrzeuge auf die Straße geschickt und der Deutschen Bahn mit niedrigen Preisen eingeheizt werden. Konkurrenz mag das Geschäft kurzfristig beleben, die Umwelt wird langfristig daran sterben. Die Auslastung von Bus und Bahn wird sinken, die CO2-Emission pro Fahrgast steigen und unrentable Routen werden stillgelegt. Am Ende sind Kunden und Klima gleichermaßen gestraft.  

Aus Strafen sollen Verurteilte lernen. Aber wer lehrt Richter aus ihren Fehlurteilen zu lernen? Das zweite juristische Staatsexamen ersetzt nicht den gesunden Menschenverstand. Und der sollte ihnen sagen, dass der Schutz von Mensch und Natur vor dem Schutz von Ölmultis, Chemiebossen und Automobilmanagern rangiert. Die Natur kommt ohne den Menschen aus. Nicht umgekehrt.

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