Realitätsflucht

Kolumne 4. August 2010

Vor einem knappen Monat richteten sich noch alle Blicke auf Afrika. Besser gesagt auf Südafrika und die Fußball-WM. Bei aller Begeisterung für das Mega-Event, die perfekte Organisation und die friedliche Atmosphäre blendeten die Medien das tägliche Drama im Norden des Kontinents wieder mal aus. Zehntausende Afrikaner riskieren alljährlich – Tendenz weiter steigend – auf maroden Booten ihr Leben, um ein besseres und sicheres in Europa zu finden.

In ihren Ohren musste das offizielle WM-Motto „Ke Nako – Es ist Zeit, Afrikas Menschlichkeit zu feiern“ wie reiner Hohn klingen. Für sie gibt es derzeit weder einen Grund, Afrikas noch Europas Menschlichkeit zu feiern. Missachten doch beiden Seiten regelmäßig ihre Menschenrechte. Doch das ist den Medien kaum noch eine Meldung wert. 

Wieso auch? Seit Monaten herrscht im berüchtigten Flüchtlingslager in Lampedusa gähnende Leere, die fast 1000 Mann starken Sicherheitskräfte wurden längst abgezogen. Auf der süditalienischen Insel sind keine ausgemergelten Körper und erschöpften Gesichter mehr zu sehen, also auch keine Kameras, die das aufmerksamkeitsträchtige Elend einfangen und der Heimat präsentieren könnten. Stattdessen machte kurz nach der WM die scheinbar frohe Botschaft die Runde: „Zahl der Bootsflüchtlinge sinkt“. Sie fällt aber nicht, weil die fluchtwilligen Afrikaner in ihrer Heimat plötzlich Arbeit gefunden hätten oder vor Verfolgung sicher wären. Sondern, weil die in einer Grauzone operierende europäische Grenz-Agentur FRONTEX dank ihres jährlich steigenden Etats und häufigeren Patrouillen, Flüchtlingsboote und ihre Insassen noch erfolgreicher „umgeleitet“ hat. So die offizielle Umschreibung für Aktionen, über die bis heute keine öffentlichen Berichte existieren. 

Noch „effizienter“ wirkt sich das Abkommen zwischen Italien und Libyen aus, mit dem sich Berlusconi seit letztem Jahr die Flüchtlinge „erfolgreich“ vom Hals hält. Dank seiner milliardenschweren Spende sorgen mittlerweile Gadaffis Grenzschützer dafür, dass Italiens Aufnahmelager fast flüchtlingsfrei bleiben. Dass laut Human Rights Watch in den libyschen Abschiebezentren „entsetzliche Zustände“ herrschen und Misshandlungen an der Tagesordnung sind, soll des Europäers Sorge nicht mehr sein. Sind die Flüchtlinge dennoch erst einmal im Lande, hat sich Frankreichs Staatschef Sarkozy etwas Neues einfallen lassen. Mit perfiden Methoden versucht er gezielt, all jene wieder los zu werden, die alle Hürden überwunden haben. Christliches Abendland eben.  

Statt in die Abwehr der Flüchtlinge sollten die europäischen Regierungen besser in die Beseitigung der Fluchtgründe investieren. Für das menschenunwürdige Abfangen und Abschieben tragen sie ebenso Verantwortung wie für die Motive der verzweifelten Migranten. Wer fischt denn mit riesigen Fangflotten die nordafrikanischen Küsten leer? Wer subventioniert seine Landwirtschaft denn so drastisch, dass afrikanische Erzeugnisse auf den Weltmärkten nicht wettbewerbsfähig sind? Europa, dessen Gier nach Wohlstand entscheidend zu Afrikas Armut und Labilität beiträgt. Dass Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel mit seiner Politik zukünftig vor allem der deutschen Wirtschaft dienen möchte, passt da bestens ins Bild. 

Die Afrikaner flüchten vor der Realität in ihrer Heimat. Die Europäer vor ihrer  Mitverantwortung. Wer das Flüchtlingsproblem lösen will, muss die dortige Armut strukturiert bekämpfen und das vor fünfundzwanzig Jahren unterzeichnete Schengener Abkommen gründlich reformieren.

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