Kolumne Oktober 2011
„Markt pur ist Wirtschaft pervers. Markt pur ist der pure Wahnsinn“. Wer das sagte, ist kein durchgeknallter Linker aus dem Kreise der üblichen Verdächtigen, sondern der leibhaftige Vorsitzende der CSU. Dieser Tage gesprochen auf dem Nürnberger Parteitag, als Kernsätze landesweit verbreitet über die Fernsehkanäle.
Derweil nahm in den USA die Zahl der Protestierer gegen das Bankenwesen unter dem Motto „Besetzt die Wallstreet“ ständig zu. Inzwischen seien auch die amerikanischen Medien auf diese Bewegung aufmerksam geworden, nachdem 700 Demonstranten bei einem Marsch über die Brooklyn-Bridge stundenlang den Verkehr lahmgelegt hatten, war zu vernehmen. „Ist das nun der Beginn einer neuen revolutionären Bewegung“ fragte die Moderatorin einer TV-Sendung. Erste Schnell-Interpreten der Ereignisse wollen gar schon eine Parallele zu den revolutionären Bewegungen in den arabischen Ländern beschwören. Und unser greiser Experte für Mediation, Revolution und Stresstests aller Art raunt schon düster in die Kameramikrofone, auch bei unserer Jugend werde sich sicher bald etwas zusammenbrauen.
Dass ich mich bei meiner anschwellenden Philippika einmal auf einen Mitherausgeber der FAZ würde berufen können, überrascht mich dann doch. „Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik. So abgewirtschaftet sie schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht. Und weiter: Globalisierung bedeutet nur, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler jeder Nation verteilen“.
Geradezu revolutionär klingt es, wenn Frank Schirrmacher am 14.August den erzkonservativen britischen Thatcher-Biographen Charles Moore mit dessen Analyse zitiert: „Denn wenn die Banken, die sich um unser Geld kümmern sollen, uns das Geld wegnehmen, es verlieren und aufgrund staatlicher Garantien dafür nicht bestraft werden, passiert etwas Schlimmes. Es zeigt sich – wie die Linke immer behauptet hat – dass ein System, das angetreten ist, das Vorankommen von vielen zu ermöglichen, sich zu einem System pervertiert hat, das die Wenigen bereichert“.
Einmal unterstellt, diese Reaktivierung linker Kritik am Kapitalismus sei eine ernst zu nehmende Aussicht, wäre die revolutionäre Einheitsfront gegen den globalen Klassenfeind nur noch eine Frage der Zeit. Rolf Hochhuth, der schon lange die Revolution fordert, Arm in Arm mit den Leuten von der FAZ auf den Barrikaden aus Euro-Paletten und Ikea-Möbeln: ein unschlagbares Team!
Wenn aber nun am 28. August Michael Naumann mit seiner Regierungserfahrung aus den Schröder-Jahren im Feuilleton derselben Zeitung die eben noch exhumierte Linke gleich wieder beerdigt: „Links sind höchstens noch Erinnerungen . Als die Finanzmärkte entfesselt wurden, entschied sich die rot-grüne Regierung, das deutsche Großkapital zu fördern“, ist die Verwirrung wieder perfekt. Da setzen sich immer mehr Hardcore-Leute via FAZ vom ausgelaugten Konservativismus ab und das soll alles nichts zu bedeuten haben, weil es ja leider keine Alternative gebe? Alles nur ein Spiel, ‚Vorhang zu und alle Fragen offen‘? Zeit, den Transfer des Feuilletons in die Politik zu organisieren. Auch der Sockel des monumentalen Chemnitzer Karl-Marx-Kopfes bedarf übrigens dringend der Sanierung.