Reisen bildet

Kolumne Oktober 2012

Die schlichte Volksweisheit  „Reisen bildet“ schleppt sich nun schon durch die Generationen, ohne dass der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung noch hinterfragt würde. Als obsessiver Bahnfahrer verschaffe ich mir immer wieder Bildungserlebnisse der besonderen Art. Es sind die liegengebliebenen herrenlosen Drucksachen, die es mir angetan haben. So ist das Gratisblatt „20 Minuten“ in den aus Basel kommenden Zügen jedes Mal eine Fundgarantie. 

Eine Ausgabe machte mich jetzt besonders neugierig. Schon die Schlagzeile auf der Titelseite versprach etwas Triumphales: „Schweiz sagt NEIN zu striktem Rauchverbot“. Und im Bericht: Das Stimmvolk hat die Initiative ‚Schutz vor Passivrauchen‘ mit 66 Prozent abgeschmettert“. Ja, abgeschmettert! Enttäuschung bei Lungenliga und Ärzten – Zufriedenheit bei  Wirten, bürgerlichen Parteien und Tabakindustrie. Der Präsident der IG Freiheit – so etwas gibt es tatsächlich in der Schweiz – spricht freudig erregt von einem „Sieg der Eigenverantwortung“. Im Innern des Blattes beklagt die Lungenliga schließlich den „Schiffbruch an der Urne“. Dabei käme für mich ein „Schiffbruch in der Urne“ dem speziellen Casus doch wesentlich näher. Besagter Präsident sieht in der „wuchtigen Ablehnung“ durch Volkes erklärten Willen ein „klares Zeichen gegen Bevormundung“ und „Zwängelei“. Ganz allgemein ist der Schutz vor Passivrauchen im Schweizer Volk zwar populär, daraus eine verbindliche Regel werden zu lassen, dazu reicht es aber dann doch nicht.

Von ähnlicher Brisanz ist das Ergebnis einer zweiten Befragung vom gleichen Tage: „Faire Steuern – für Familien“. Denn mit ebenfalls deutlicher Mehrheit haben im Kanton Bern die Stimmbürger dafür gesorgt, dass die Autosteuern künftig um ein Drittel sinken werden. Ganz zum Leidwesen des Kantons, der nun nicht weiß, wie er auf einen Schlag Steuerausfälle von 113 Millionen Franken verkraften soll. Der siegreiche „Volksvorschlag“ wurde übrigens von einem Garagisten eingebracht.

Eine weitere Fundsache ordnet die Abstimmungsergebnisse politisch ideologisch ein. So befindet die stockkonservative Berner Zeitung „Der Bund“ ultimativ: „Bernerinnen und Berner sagen Nein zu linken Steuerideen“. Immerhin sollte sich herumgesprochen haben, dass „eine stärkere Berücksichtigung ökologischer Kriterien“ längst keine Frage mehr von Links oder Rechts ist, sondern von Einsicht in die Notwendigkeit in Zeiten des fortschreitenden Klimawandels und der galoppierenden Umweltzerstörung. Auch wenn aus Schweizer Perspektive sich das dramatische Abschmelzen der Polkappen der unmittelbaren Sicht entzieht, so ist doch die fortschreitende heimische Gletscherschmelze unübersehbar.

In diesem Zusammenhang interessant ist ein Artikel in dem erwähnten „20 Minuten“-Blatt. Unter der Überschrift „Klimawandel bedroht Fichten“ heißt es: „Der Klimawandel könnte den wirtschaftlichen Wert der europäischen Wälder bis ins Jahr 2100 halbieren“. Nach Auskunft eines internationalen Forscherteams würden sich vor allem Fichten in Nordeuropa immer mehr zurückziehen und die an Trockenheit angepassten Arten wie die Korkeiche nachrücken.

Es ist die Gleichzeitigkeit der sich widersprechenden Nachrichten, die einen an der Vernunft geschulten Leser gelegentlich an den Rand der Verzweiflung bringen kann. Jedenfalls dann, wenn er in Volksbefragungen eine Bereicherung der Demokratie sieht.

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