Kolumne 4. Juni 2015
Was tun manche Menschen nicht alles, um wieder ins Gespräch zu kommen. Fast hätten wir Victor Orbán schon vergessen, der in aller Ruhe an der Installation seiner „illiberalen Demokratie“ im Keller des Europäischen Hauses weiterbastelt. Mittlerweile ist die Aufregung um ein ungarisches Mediengesetz längst Geschichte. Anwälte haben es übernommen, Journalisten und Redaktionen, die das Systems Orbán kritisieren oder einfach nur die reich vorhandenen Fakten aneinanderreihen, mit Verfügungen und Verboten zu überziehen.
Das scheint so gut zu funktionieren, dass man inzwischen sogar dem SPIEGEL und der Financial Times grenzüberschreitend Sanktionen für ihre Berichterstattung androht. Man möchte in Budapest ungestört bleiben, wenn dubiose Vergabemethoden von Staatsaufträgen, Begünstigung von FIDESZ-nahen Einrichtungen bei der Ausschüttung von NGO-Geldern und überhaupt die Tendenz zur asozialen, ständestaatlichen Steuer- und Verteilungspolitik ruchbar werden und die EU-Kommission zu vorsichtiger Kritik veranlassen. So vorsichtig, dass sich die Orban-Regierung auch weiterhin ihrer angeblichen wirtschaftlichen Gesundung und des besten Weges zur Vollbeschäftigung (vor allem mit lächerlich vergüteten Sozialarbeitsprojekten) rühmen kann.
Aber die Stimmen im Land werden lauter, die nach Aufklärung von Korruption und Klientelwirtschaft rufen – und so brauchte man ein Ablenkungsmanöver, das genug Aufmerksamkeit erzeugt. Kanzleichef Lazar probierte es Anfang Mai schon mal, wie denn die Öffentlichkeit auf die Wiedereinführung der Todesstrafe reagieren würde und Victor Orban erschien dann mit dem Satz „man müsse die Todesstrafe auf der Tagesordnung halten“ sogar vor dem Europaparlament. Alle waren sofort hellwach, es hagelte Proteste von Links bis rechter Mitte – weiter nach außen, wo Jobbik und Co. seinen Platz hat, wurde es stiller. Hatte Orban der Fuchs ihnen doch schon wieder ein Stück Beute abgejagt. Und – das Kalkül ging auf. In all der Aufregung, die sogar in der Drohung des Ausschlussverfahrens aus der EU gipfelte, hatte sich der Europakritiker für die Masse der heimischen Wähler wieder einmal etwas mehr profiliert und mit seiner nationalistisch grundierten Absage an Migrantenquoten sogar noch eins draufgelegt. Bei all der Aufregung war von dringend nötiger Korruptionsaufklärung im Umfeld der in Budapest Regierenden keine Rede mehr.
Kurz vor Pfingsten erhielt Orban sogar noch den Ritterschlag in Gestalt einer mehr als angedeuteten Backpfeife durch den EU-Kommissionspräsidenten. Beim Gipfel in Riga sprach ein warum auch immer gutgelaunter Jean-Claude Juncker ungebremst den Begrüßungssatz hör- und sichtbar für Kameras und Mikrofone: „Der Diktator kommt!“ Orban nahm es heiter und soll den Luxemburger angemessen als „Großherzog“ tituliert haben. Das ganze landete sofort auf Youtube und hatte bis gestern 1,5 Millionen Zuschauer. So funktioniert Medienpolitik. So geht man angemessen miteinander um, statt die Leute da draußen mit Kleinigkeiten wie Luxemburger Steuervermeidungspraktiken und ungarischem Rechtsdrall nebst kleptokratischer Verfehlungen zu langweilen.
Doch jetzt hat Juncker überraschend noch einmal mit einer zweiten Ohrfeige nachgelegt – sollte Ungarn tatsächlich die Todesstrafe einführen, dann habe das Land keinen Platz in der Europäischen Union, denn „dies wäre „ein Scheidungsgrund“. Hat Orban diesmal zu hoch gepokert?