Kolumne Oktober 2015
Sicher bin ich nicht der einzige, der sich noch an eine Zeit erinnert, als hierzulande an Wahlsonntagen nach dem Gottesdienst von der Kanzel darauf insistiert wurde, gefälligst das Kreuz bei den C-Parteien zu machen. Diese Art fürsorglicher Bevormundung gehört inzwischen selbst in den katholischsten Flecken der Republik weitgehend der Vergangenheit an. Schließlich bringt es die Merkel-Union bisher auch ohne den kirchlichen Segen zu Mehrheiten.
Häufig wird im Sinne einer Selbstvergewisserung betont, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation Teil des christlich-jüdischen Abendlandes sei. Zwei Parteien führen ihr Glaubensbekenntnis demonstrativ im Namen, ergänzt durch die Adjektive demokratisch und sozial. Ein kurzzeitiger Bundespräsident machte auf sich aufmerksam, als er öffentlich zu Protokoll gab, dass der Islam ebenfalls zu Deutschland gehöre. Der Islamismus, vor allem in der weltweit Angst und Schrecken verbreitenden terroristischen Variante gehört mit Sicherheit nicht dazu.
Dass die Verfassung die individuelle Religionsfreiheit garantiert, gehört zu den Gewissheiten unseres Zusammenlebens. Gleichzeitig genießen wir die Vorzüge des Rechtsstaats mit seiner ordentlichen Gerichtsbarkeit, zu der die Scharia jedoch nicht gehört. Unser Staat ist nicht laizistisch organisiert wie in Frankreich. Wir haben einen säkularen Staat in der Tradition der Aufklärung mit dem Versprechen kultureller Vielfalt und Religionsfreiheit. Dennoch speist sich seit einiger Zeit eine „Bewegung“ von Rechtsradikalen und „besorgten Bürgern“ aus einer diffusen religiösen Überfremdungsangst, genährt durch immer neue Flüchtlingsströme.
Das Abendland scheint wieder einmal in höchster Gefahr. Ausgelöst durch die Weigerung des Senats, das geltende Neutralitätsgesetz mit seinem Kopftuchverbot an allgemeinen Schulen und öffentlichen Verwaltungen einer Korrektur zu unterziehen, wirkt der derzeit in Berlin geführte „Kopftuchstreit“ bizarr. Das Bundesverfassungsgericht hatte es sich mit seinem jüngsten Urteil leider recht leicht gemacht, als es zwischen einer „hinreichend konkreten Gefahr“ und einer „abstrakten Gefährdung“ des Schulfriedens unterschied. Prompt kämpfen konservativ-religiöse muslimische Verbände weiter gegen das Verbot, „weil es ein Integrationshindernis“ sei. Wie bitte? Wer ernsthaft an Integration in unsere und nicht irgendeine Gesellschaft interessiert ist, könnte ja auch einmal auf die Idee kommen, im öffentlichen Dienst freiwillig auf dieses Tuch zu verzichten. Es ist gut, dass der Berliner Senat bei seiner Haltung geblieben ist. Schließlich gibt es genügend Bequemlichkeit und Feigheit, die sich als Toleranz tarnen.
Kürzlich wurde mir ausgerechnet der Dalai Lama um einen Hauch sympathischer, als in einer aufwendigen Zeitungsanzeige für sein kleines Buch geworben wurde. Zitat: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Ethik ist wichtiger als Religion“. Es käme auf den Versuch an. Ich bin sicher, dass darin auch der Pazifismus der Bergpredigt, ergänzt durch die Aufklärung und Immanuel Kants kategorischem Imperativ, seinen Platz hat. Was für eine schöne Überlegung, denkt man nur an all die unter religiösem Vorwand betriebenen Gemetzel von Al-Kaida, Boko Haram, Al-Shabab, des IS und ähnlicher terroristischer Vereinigungen. Nicht zu vergessen die christlichen Erweckungsbewegungen, die voller Inbrunst gegen Charles Darwin militant zu Felde ziehen.