Es gibt viel zu verlieren

Kolumne 19. November 2015

„Es wächst der Eindruck, dass wir nicht mehr alle Menschen im Land erreichen können“, schreibt die Nachrichtenredaktion des Deutschlandfunks ihren Hörern und Internet-Lesern in einem Editorial. Vom Vorwurf  der „Gleichschaltung“ (Pegida kehrt den Nazibegriff einfach um)  bis zum rhetorischen Fallbeil der „Lügenpresse“ bekommen die Redakteure nunmehr täglich die ganze Skala der Diffamierung per E-Mail und in den angeblich sozialen Medien um die Ohren gehauen. So als wären Pegida und AFD nicht die obskuren Randerscheinungen unserer Demokratie, sondern eine Art tägliches politisches Folkloreprogramm. 

Mit sachlicher Kritik – man lese es beim DLF nach – setzen sich verantwortungsbewusste Journalisten intensiv auseinander. Doch seit sich der Ton in den Hörer- und Leserzuschriften auffallend ins Rüde und Krawallige verändert hat, stoßen die Dialogangebote immer öfter ins Leere, weil die Gegenseite gar nicht mehr diskutieren will. 

Es ist unter unseren Augen eine Gegenöffentlichkeit zu den traditionellen Massenmedien entstanden, die durch ihre Vernetzung mit dem deutschnationalen, EU- und USA-feindlichen Milieu, mit den Pro-Putin-Propagandisten und den wirresten Verschwörungsfanatikern eine „Querfront“ bildet. Mit diesem Begriff hat die Otto-Brenner-Stiftung kürzlich in einer Studie die „Karriere eines politisch-publizistischen Netzwerks“ beschrieben.

Im Zentrum finden wir Jürgen Elsässer, den Chefredakteur des Magazins „Compact“, einem Unternehmen, das sich längst zur multimedialen Propagandaschleuder mit TV-Kanal im Internet, mit Blogs und Druckerzeugnissen sowie als Kongressveranstalter entwickelt hat. Für die letzte Konferenz „Freiheit für Deutschland“, mit rund tausend Teilnehmern Ende Oktober in Berlin, warb Elsässer: „COMPACT hat den ‚Mut zur Wahrheit‘: Deutschland ist immer noch ein besetztes Land. Wir sind ein Militärprotektorat und eine Wirtschaftskolonie der USA. TTIP ist der Versailler Vertrag des 21. Jahrhunderts.“ 

Den Mut zur Wahrheit, dass TTIP unser Wirtschaftssystem nachhaltig gefährden könnte und deshalb hinterfragt werden muss, nehme ich auch für mich in Anspruch. Aber hier zeigt sich, wie die wilden Populisten, die auch die Nähe zu den irrationalen „Reichsbürgern“ wie zu den Pegida-Mitläufern suchen, die Maßstäbe bewusst verwischen. 

Das Dilemma fließender Grenzen in der neuen Gegenöffentlichkeit hat auf der linken Seite der Gesellschaft auch die verdienstvollen „NachDenkSeiten“ erreicht. Vor 12 Jahren von Albrecht Müller und Wolfgang Lieb als Internet-Medium verdienstvoller politischer Aufklärung und Diskussion begründet, ging jetzt der zweite Mann von Bord. Denn er fand das einstige Ziel der Reise nicht mehr wieder, „Informationen und die differenzierte Abbildung der Wirklichkeit vor ihre politische Bewertung und vor die Unterordnung unter das eigene Weltbild“  zu stellen. Stattdessen wurde allgemein zum Kampf gegen die Herrschenden und gegen die Medien aufgerufen – ein Weg in die politische Resignation und Isolation. Selbst die NachDenkSeiten benutzen immer häufiger den Begriff der „Gleichschaltung“ für die Arbeit der Journalistenkollegen.

Zurück zum DLF: es wäre in der Tat fahrlässig, einfach zuzusehen, wie das Vertrauen in die öffentlich-rechtlichen Medien – wie auch in den anspruchsvollen Printjournalismus – weiter schwindet. Denn wir haben viel zu verlieren.

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