Kolumne vom 6.4.2017
Das „Gesetz zu Artikel 29 der Verfassung von Berlin vom 27. Januar 2005“ – genannt Neutralitätsgesetz – hat nur sechs Paragrafen. Schon in der Präambel ist der Regelungsbedarf präzise beschrieben: „Alle Beschäftigten genießen Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses“. Nach dem Diskriminierungsverbot folgt die Feststellung, dass das Land Berlin „zu weltanschaulich-religiöser Neutralität verpflichtet“ ist und sich die Landesbeschäftigten „in den Bereichen, in denen die Bürgerin oder der Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen sind, in ihrem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis zurückhalten“.
Diese allgemeinen Betrachtungen werden für Beamte und Beamtinnen in Justiz und Polizei sowie Lehrer an öffentlichen Schulen präzisiert. In Anbetracht der Tatsache, dass die Bundesrepublik gemäß ihrem Selbstverständnis kein laizistischer Staat ist, sondern sich zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichtet fühlt, lässt das Berliner Gesetz an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Dass es dennoch in Frage gestellt wird, scheint einem gewissen Zeitgeist und der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geschuldet zu sein. Dabei geht es nicht um die Kruzifixe im Klassenzimmer. Gegenstand der Auseinandersetzung ist die leidige Kopftuchdebatte.
Einen der schönsten Eiertänze in dieser Causa führt der neue Berliner Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei auf, wenn er einerseits in der „taz“ erklärt, die strikte Trennung von Staat und Religion sei richtig, andererseits jedoch zu Protokoll gibt: „Wenn die Praxis aber anders aussieht, muss das Gesetz diskutiert und in der Konsequenz auch aufs Neue verhandelt, überarbeitet werden.“ Man könnte ein solches Denken auch als überholende Kausalität einstufen. Wird ein Gesetz nur häufig genug durch praktisches Handeln unterlaufen, kann man es auch von der Legislative zur Disposition stellen.
Leider hat das Bundesverfassungsgericht den unseligen Konflikt um das streitbefangene Stück Stoff noch angeheizt. In seiner pflaumenweichen Entscheidung vom März 2015 urteilte es, dass ein Kopftuchverbot künftig nur noch möglich sei, wenn „eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden besteht“. So weicht man einer klaren Entscheidung aus!
Das Berliner Landesarbeitsgericht (LAG) sah sich daraufhin veranlasst, einer Lehrerin, die das Kopftuch auch an Grundschulen tragen möchte, eine Entschädigung zuzusprechen. Noch liegt die Begründung des LAG nicht vor und der Berliner Senat sah sich noch nicht gefordert, Revision zum Bundesarbeitsgericht einzulegen. Ich hoffe, er tut es! Auch um ein Signal gegen die schleichende religiöse Aufweichung unseres Staatsverständnisses zu setzen.
Die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes erlaubt es auch Arbeitgebern, ihren Mitarbeitern im Kundenkontakt „neutrales“ Auftreten vorzuschreiben. Damit ist nicht nur das Kopftuch gemeint. Der Streit kann weitergehen.
Die Kolumne erschien zeitgleich in der Frankfurter Rundschau und in der Berliner Zeitung.