Über gute und schlechte Seiten der Studentenrevolte – und über den Heimvorteil, den ein Sozialdemokrat damals genoss. Kolumne vom 19.4.2018.
Die deutsche Geschichte ist nicht allzu reich an Ereignissen für demokratische Erinnerungen. Das 50-jährige Jubiläum der 68er-Bewegung wird gerade zu einem solchen verklärt.
Um es gleich zu sagen: Ich bin kein 68er, obwohl mein vielfältiges Wirken häufig in dieser Schublade – mal auf-, mal abwertend – platziert wird. Ich bin bei dem Soziologen Oskar Negt politisch in die Schule gegangen und das zu einer Zeit, als die örtlichen SDS-Mitglieder noch auf einer Bettkante eines Heidelberger Studentenhochhauses Platz fanden.
Von ihm habe ich gelernt, dass die wahren Revolutionäre die entschiedenen Reformer sind. Auch teile ich seine Meinung, dass die Studentenbewegung die freie Rede förderte und die Lust an der Erkenntnis eine Antwort auf die bleierne Zeit der Adenauer-Epoche war. Bis heute gilt: Es geht um die Veränderbarkeit der Dinge und Verhältnisse!
Als politischen Heimvorteil gegenüber der 68er-Bewegung sehe ich, dass ich am 1. April 1960 in einem Arbeiterbezirk zu den Sozialdemokraten gestoßen war und somit ganz anders geerdet, als sich gegen Ende der 60er Jahre aus einer überschaubaren Zahl linker Studenten eine temporäre Massenbewegung bildete. Für die Revolutionäre mutierte so mein frühes Engagement zum doppelten Makel: bemitleidenswerter Sozi und bürgerlicher Künstler.
Diese mir entgegengebrachte Schmach war umso leichter zu ertragen, als ich die sprichwörtlichen Mühen der politischen Ebenen bereits kennen und erleiden gelernt hatte. Da saß ich nun in meinem Ortsverein neben den GenossInnen, deren Überzeugungen einige ins KZ gebracht hatte, die aber dennoch den studentischen Vorstellungen vom Idealbild des Arbeiters so gar nicht entsprachen.
Heidelberg war neben Westberlin und Frankfurt eine der zentralen Kampfarenen des Protests gegen den Vietnamkrieg, die Verkrustung nicht nur der universitären Strukturen und das Establishment überhaupt. Hier wurde im Schatten einer übermächtigen Schlossruine der Kommunistische Bund Westdeutschland, KBW, gegründet – eine der autoritärsten Sekten mit Universalanspruch. Dass einer der Mitbegründer dieser Truppe, die den Zweifel nicht kannte, später von Minister Fischer in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes geholt wurde und ein anderer es bis zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten brachte, gehört für mich zu den Kuriosa der BRD.
Meine politische Besorgnis hielt sich jedoch in Grenzen. Nicht nur die braven Heidelberger wollten damals überallhin in die Welt, aber weder im Herrschaftsbereich von Maos China noch gar in Pol Pots Kambodscha ihren Urlaub verbringen. Wäre es nicht für jene Führungskader, die revolutionäre Grußbotschaften an einen der größten Massenmörder der Neuzeit geschickt hatten, an der Zeit, sich für ihre Blindheit zu entschuldigen? Immerhin hatte meine Generation zu recht von ihren Eltern Rechenschaft verlangt, ob und wie weit sie in die Nazibarbarei verstrickt waren.
Als ein Nicht-68er habe nicht nur ich von der Tatsache profitiert, dass die gesamte Gesellschaft auf den Rütteltisch kam und das Hinterfragen von all jenen Entscheidungen begann, die zuvor als sakrosankt galten. Übrigens habe ich Rudi Dutschke im Gegensatz zu einigen seiner martialisch klingenden Reden für die Weltrevolution im persönlichen Gespräch als sanften Prediger für die friedliche Veränderbarkeit der Welt kennengelernt.
Trotz aller Widersprüche begannen damals viele Entwicklungen für mehr Demokratie, von denen einige heute wieder in Frage gestellt werden.
Die Kolumne erschien zeitgleich in der Berliner Zeitung und (unter dem Titel „Die zwei Gesichter von 68“) in der Frankfurter Rundschau