Wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland im Frühjahr 2021? Ein Gespräch mit dem Heidelberger Plakatkünstler und Rechtsanwalt Klaus Staeck / Von Philipp Neumayr
Interview für die Rhein-Neckar-Zeitung vom 30.04./01.05.2021. Mit Dank für die Genehmigung einer Übernahme für diese Internetseite.
Was gesagt werden kann, muss gesagt werden – dafür kämpft Klaus Staeck seit Jahrzehnten. „Wo kämen wir eigentlich hin, wenn jeder frei seine Meinung sagen dürfte“, schrieb er mal auf eines seiner unzähligen politisch-satirischen Plakate, die er in all den Jahren entworfen hat. Heute ist der in Heidelberg lebende und arbeitende Künstler, Rechtsanwalt und Ehrenpräsident der Akademie der Künste 83 Jahre alt. Ein Gespräch mit einem Meinungsstarken über die Meinungsfreiheit in Zeiten des Ausnahmezustands.
Herr Staeck, wie steht es um die Meinungsfreiheit in Deutschland?
Die Meinungsfreiheit ist immer gefährdet. Und sie muss immer verteidigt werden. Die Frage lautet stets: Wer bestimmt den Maßstab? Für mich war und ist der Artikel 5 des Grundgesetzes die Arbeitsgrundlage. Ich hatte und habe für meine Kunst und mein Leben immer zwei Prinzipien. Zum einen: Die unverschuldet Schwachen vor dem Übermut der Starken verteidigen. Und zum anderen: Nichts ist erledigt. Man kann sich auf nichts ausruhen – auch nicht bei der Meinungsfreiheit.
Vor einigen Tagen kritisierte eine Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen unter dem Hashtag „allesdichtmachen“ die Maßnahmen der Regierung gegen die Corona-Pandemie. Wie bewerten Sie diese Aktion?
Da steht und stand ja zunächst die zentrale Frage im Raum: Dürfen die das? Und natürlich darf man Kritik an einer Regierung üben, die demokratisch gewählt ist. Aber vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Menschen auf Intensivstationen liegen, um Luft ringen, versuchen zu überleben und viele eben nicht überleben, war das reiner Zynismus. Damit wurde eindeutig eine Grenze überschritten.
Der Schauspieler Jan Josef Liefers suggerierte in seinem Video, die Meinungen hierzulande seien gleichgeschaltet. Ersagte, die Medien sorgten dafür, „dass kein unnötiger kritischer Disput uns ablenken kann von der Zustimmung zu den sinnvollen und immer angemessenen Maßnahmen unserer Regierung“.
Ich kenne Jan Josef Liefers und auch viele andere Schauspieler, die sich in dieser Form geäußert haben. Ich schätze sie und trotzdem teile ich nicht ihre Meinung. Diese Aktion hat meiner Meinung nach nicht allzu viel zur Willensbildung in pandemischen Zeiten beigetragen. Das Törichteste fand ich, dass ein Schauspieler demonstrierte, wie er in zwei Tüten ein- und ausatmete.
In einem Interview zur Böhmermann-Affäre um ein Schmähgedicht über den türkischen Präsidenten Erdogan sagten Sie, Satire sei mit einer Verantwortung verbunden. Hat den Schauspielern und Schauspielerinnen dieses Verantwortungsbewusstsein gefehlt?
Teilweise. Nach dem, was ich gehört und gelesen habe, handelt es sich um verschiedene Äußerungen. Aber ja, es geht um Verantwortung. Wenn man Satire einsetzt, dann muss sie auch ein legitimes Ziel verfolgen, eine Botschaft haben.
Sie haben über 500 Plakate gemacht, für die Sie sich selbst des Stilmittels der Zuspitzung, der Ironisierung bedient haben.
Ich bin eindeutig ein Verfechter von Ironie und Satire. Meine Aufgabe war es stets, die Meinungsfreiheit auch gegen die Mächtigen und Starken zu verteidigen. Ich habe mich nie mit Schwachen angelegt. Und die Satire war dabei ein scharfes Instrument. Aber wer ironisch ist, der hat wie gesagt auch eine Verantwortung. Ein kluger Mann hat einmal gesagt: Die Ironie ist nichts ohne die Todesangst. Da ist etwas dran.
Hatten Sie nie Sorgen oder gar Angst, die Grenzen der Meinungsfreiheit mit Ihrer Kunst zu überschreiten?
Natürlich war ich manchmal angespannt. Ich wurde ja zahlreiche Male verklagt. Da ging es um Streitwerte von bis zu 300.000 Mark und fast immer ging es bis in die höchste Instanz. Ich habe gemeinsam mit Greenpeace mal ein Plakat gemacht mit dem Titel „Alle reden vom Klima – wir ruinieren es“. Es richtete sich gegen die beiden Firmen-Chefs von Hoechst und Kali Chemie, zwei enorme Produzenten von klimaschädlichen Fluorchlorkohlenwasserstoffen. Da war ich schon besorgt, denn ich wusste, jetzt hat man es mit zwei Rechtsabteilungen zweier großer Firmen zu tun – und die werden alles daran setzen, ihr Gehalt zu rechtfertigen.
Sie mussten sich wegen Ihrer Kunst nicht nur juristisch verantworten, sie wurden auch bedroht und erhielten Morddrohungen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Ich bin sogar zur Polizei gegangen, hauptsächlich wegen Drohanrufen. Da gab es Situationen, dass ich abends am Schreibtisch saß, einen anonymen Anruf erhielt und mir jemand sagte: Ich weiß genau, wo du hockst, ich weiß genau, wann du nach Hause gehst. Manchmal bin ich vor dem Heimweg dann extra nach oben gegangen und habe aus dem Fenster geschaut, ob da jemand lauert. In meinem Büro hat man mir auch mal die Scheiben eingeworfen. Daraufhin habe ich in die Tür und die Fenster Panzerglasscheiben und vor meinem Schreibtisch eine Metallplatte einbauen lassen – so fühlte ich mich sicher. Später kam mal einer, der warf eine volle Bierflasche gegen die Scheibe. Ich bin dann raus und habe ihn gefragt, was er da mache. Wir hatten ein langes Gespräch. Und zum Schluss sagte er mir: Wenn Sie mir sagen, wo es langgeht, folge ich Ihnen. Das hat mir gezeigt, wie groß die Sehnsucht der Menschen ist, dass ihnen einer sagt, was richtig und was falsch ist.
Haben diese Drohungen und Attacken Sie und Ihre Arbeit verändert?
Für Feigheit gab und gibt es für mich keine Entschuldigung. Manche haben gesagt, der ist verrückt oder der ist mutig. Ich bin aber gar nicht in dem Sinne mutig – ich war nur immer couragiert. Ich habe eine Bürgercourage von meinen Eltern mitbekommen, die ich eigentlich von jedem erwarte in der Demokratie. Und da gibt es ja glücklicherweise auch genügend Leute, die den Mund aufmachen, wenn sie Unrecht wittern.
Auch im Zuge der Pandemie machen Menschen den Mund auf, weil sie Unrecht wittern – einige von ihnen unter dem Stichwort „Querdenken“. Was unterscheidet die von Ihnen genannte Bürgercourage von dieser Bewegung?
Es handelt sich hier um professionelle Leugner, die sich einfach über eine wissenschaftliche Erkenntnis stellen. Zur Meinungsfreiheit gehört nicht der Antisemitismus. Und auch nicht, die wissenschaftliche Erkenntnis wie die Existenz eines Virus zu leugnen. Hegel sagte, Freiheit sei eine Einsicht in die Notwendigkeit. Es gibt jetzt eine Situation, die ist gefährlich. Wenn man kein Gefahrenbewusstsein für eine Sache hat, wenn man nicht anerkennt, dass ein Virus ansteckend ist – ja, was soll man da machen?
Woher rührt dieses fehlende Gefahrenbewusstsein mancher Menschen?
Ich habe manchmal das Gefühl, dass der Wohlstand dieses Gefahrenbewusstsein bei nicht wenigen Menschen geschmälert und zu dem Denken geführt hat: Alles ist möglich. Und jetzt stellt man plötzlich fest, dass uns manche Leute erklären wollen, es sei nicht mehr alles möglich. Politiker werden beschimpft, weil sie eine Maskenpflicht anordnen. Da kommen einfach Leute und sagen, das sei sinnlos – wie dieser Attila soundso, dieser vegane Koch.
Sie meinen Attila Hildmann, der im Zuge der Pandemie als Verbreiter von Verschwörungsideologien in Erscheinung getreten ist und etliche Menschen über den Messenger-Dienst Telegram hinter sich versammelt hat.
Wenn das, was er da macht, Ausübung der Meinungsfreiheit sein soll, dann stimmt einiges nicht mehr. Leider heißt allgemeine Meinungsfreiheit, dass auch den Leuten, die aktiv gegen die Demokratie vorgehen, das Recht auf freie Meinungsäußerung zusteht. Das empfand ich immer als die Schwachstelle der Meinungsfreiheit und der Demokratie.
Haben Sie dennoch Verständnis für Menschen, die nicht mit den Maßnahmen der Regierung einverstanden sind?
Natürlich ist die Parole, alles öffnen zu müssen, für viele Menschen verführerisch. Aber was bedeutet es, jetzt, in der aktuellen Situation, wieder alles zu öffnen? Wenn man das Leid auf den Intensivstationen sieht, ist ein Staat geradezu einfach verpflichtet, das einzudämmen. Zudem haben wir ja eine lebhafte Debatte. Es ist nicht so, dass über Lockerungen nicht diskutiert würde. In allen Medien wird von früh bis spät darüber gesprochen.
Ist es gerade wegen der im Grundgesetz garantierten Meinungsfreiheit nicht legitim, dass Menschen auch in dieser Hinsicht ihre Meinung äußern?
Für mich war immer klar, dass jeder in der Demokratie das Recht hat, seine Meinung zu äußern. Aber man braucht für das, was man sagt, dafür, wie man handelt, immer auch plausible und gute Gründe. Das Tolle ist ja: Immer, wenn den Menschen etwas nicht gefällt, dann rufen sie als Erstes nach der Regierung. Die Frage, die ich mir dann stelle, ist: Ja, was machst du selbst denn? Was ist dein Beitrag, außer auf andere zu zeigen? Wenn mich etwas auf die Palme bringt oder ärgert, dann ist es dieses ewige Gejammer und das ewige Klagen über die „Zustände“, die „Verhältnisse“.
Im Streit um die Meinungsfreiheit haben Kampfbegriffe wie Diktatur, Gleichschaltung oder „DDR 2.0“ Konjunktur. Sie sind selbst in der DDR aufgewachsen. Wie bewerten Sie solche Vergleiche?
Diese Leute wissen einfach nicht, was die DDR war und wovon sie reden. Dass Leute ihr Leben riskiert haben, um den Staat zu verlassen und dabei umgekommen sind, sagt doch eigentlich alles. Wer da noch Fragen hat, der tut mir leid. Meine Frau und ich, wir sind beide aus der DDR geflohen. Flüchtling ist man irgendwie ein Leben lang. Deshalb weiß ich um die Gefährdung der Demokratie. Und deshalb habe ich immer versucht, dafür zu kämpfen, dass sie bleibt.
Wie kommt es, dass Menschen sagen, man dürfe heutzutage in Deutschland nicht mehr seine Meinung sagen?
Ich bin wirklich ein Verfechter der Meinungsfreiheit. Aber wer behauptet, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, der verbreitet nach meiner Überzeugung die Unwahrheit. Man kann nicht die eigene Feigheit auf andere schieben, indem man behauptet, man dürfe dieses oder jenes nicht mehr sagen. Bei einigen Menschen hat man eher den Verdacht, dass sie unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit eben diese Meinungsfreiheit abschaffen wollen.
Das Internet bietet mittlerweile den meisten Menschen die Möglichkeit, ihre Meinung nicht nur zu äußern, sondern dafür auch ein großes Publikum zu finden, ganz gleich zu welchem Thema. Ist das nun gut oder schlecht?
Das Internet ist Kloake und Wundertüte zugleich. Es ist ein Ort, in den man alles hineinstellen kann, der unzählige Möglichkeiten bietet. Und gleichzeitig kann man dort den größten Blödsinn hineinposaunen, jeden Tag feiern Antisemitismus und Rechtsradikalismus dort neue Feste. Das Internet macht generell vieles beliebig.
Das Internet macht es zudem möglich, dass Menschen gleicher Meinung leicht zusammenfinden. Daraus entsteht oft ein Lagerdenken zwischen richtig und falsch, zwischen den für Minderheiten, Diskriminierung und Rassismus Sensibilisierten und den Reaktionären, zwischen jungen Feministinnen und alten weißen Männern. Täuscht der Eindruck oder wird der Meinungskorridor dazwischen zunehmend enger?
Heute ist oft die Methode Holzhammer angesagt, wodurch das so wichtige Differenzieren fehlt. Ich glaube, es ist sowohl die Aufgabe der Presse als auch der Kunst, diese Meinungskorridore immer wieder zu erweitern. Das ist mühselig, das ist permanentes Bemühen und Nichtnachlassen.
Was glauben Sie: Wären Sie ein anderer Künstler gewesen, hätte in der Hochphase Ihrer Kunst bereits das Internet in seiner heutigen Form existiert – mit all der Erregtheit, mit all der Wut und dem Hass?
Das weiß ich nicht. Das weiß ich einfach nicht.
Sie sagten einmal: „Man muss klar machen, dass sich die Meinungsfreiheit immer durchsetzen muss.“ Gilt das auch für die Zukunft?
Ich muss ergänzen: Die Meinungsfreiheit muss sich immer durchsetzen – aber im Rahmen der geltenden Gesetze. Momentan erleben wir, dass Dinge, die früher normal waren, auf einmal nicht mehr normal sind. Ich mache mir Sorgen, dass einige Gewissheiten ins Rutschen kommen. Dass die falschen Schlüsse gezogen, die falschen Schuldigen gesucht werden und die Falschen an die Macht kommen. Ich glaube, was wir derzeit erleben, ist so etwas wie eine Stunde der Wahrheit. Demokratie muss verteidigt werden, immer wieder neu. Und damit auch die Meinungsfreiheit. Denn in der Demokratie ist viel verhandelbar – aber die Meinungsfreiheit nicht.