Kolumne vom 31.5.2018
Die scheinbar nicht enden wollenden Erinnerungen an die Ereignisse im Jahr 1968 neigen sich langsam dem Ende zu. Grund genug, sich etwas intensiver dem Hier und Jetzt zu widmen. Verbunden mit der Frage: Was bleibt?
In Heidelberg, einst Zentrum der rebellischen Bewegung mit der Rote-Punkt-Aktion gegen die Fahrpreiserhöhungen im Öffentlichen Nahverkehr, spielt sich derzeit ein Straßenkampf der ganz besonderen Art ab. Gegenstand des bisher friedlichen Aufstands ist ein Meinungsstreit um die Sperrstunden für die Gaststätten in der Altstadt. Speerspitze dieser neuen Bewegung sind dabei nicht etwa die Wirte, sondern der StudierendenRat der Universität, eine Art Nachfolgeorganisation des legendären AStA der Revoltezeit, der kämpferischen Studentenvertretung der 60er Jahre. Mit dem Schlachtruf „Kommt zur Demo“ wurde kürzlich versucht, eine neue Massenbewegung auf die immer noch verzagten Beine zu stellen. In vorrevolutionärem Überschwang lautete deshalb das Motto der Kundgebung an der Heuscheuer: „NEIN zur frühen Sperrstunde in der Altstadt“. Und um die Notwendigkeit der Aktion und den Ernst der Lage zu erhärten, heißt es weiter: „Es drohen geschlossene Kneipen unter der Woche um 1! Und um 3! am Wochenende. Sorgt dafür, dass Freude und Kultur nicht begraben werden müssen“. Und um die Dramatik der Situation noch weiter zu unterstreichen, wurden die Parolen auf dem in düsterem Rot gehaltenen Flyer mit einem Meer von flackernden Grablichtern unterlegt.
Immerhin anders als vor 50 Jahren, als man im Klassenkampf nach der viel beschworenen Arbeiterschaft vergeblich Ausschau hielt, stehen die Studis dieser Tage nicht mehr allein auf weiter Flur, sondern können sich diesmal der Solidarität des Jugendgemeinderats der Universitätsstadt erfreuen. Während sich der Oberbürgermeister auf die Seite der überaus lärmgeplagten Altstädter geschlagen hat, schwankt der in seiner Zusammensetzung exotisch bunt anmutende Gemeinderat noch beträchtlich. Weshalb nun einige von selbigem enttäuschte Bewohner der Altstadt vor Gericht ziehen. Vertreten durch eine Karlsruher Anwaltskanzlei erheben inzwischen 25 aufrechte Anwohner vor dem Verwaltungsgerichtshof Karlsruhe eine Normerlassklage. Ich muss zugeben, dass mir dieses Rechtsmittel jedenfalls aus meinem Jura-Studium bisher nicht vertraut war. Leider können sich die Kläger nicht auf strengere Vorgaben berufen, die sich viele vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim seinerzeit erhofft hatten. Außerdem werden sie in ihrem Kampf gegen den bisweilen tatsächlich kaum erträglichen Lärm von der Initiative „Leben in der Altstadt“ (Linda) unterstützt. Während die lokale Rhein-Neckar-Zeitung über den jeweils neuesten juristischen Stand der Dinge ausführlich berichtet, verkündet sie zeitgleich die frohe Botschaft: „Jetzt offiziell: In Heidelberg lebt sich’s bestens“. Platz zwei nach München sei das Ergebnis einer Studie über den Wohlfühlfaktor in den Städten.
Nicht zuletzt als Altstadtbewohner warte ich gespannt auf den Ausgang des langjährigen Streits. Denn schließlich geht es um Freude und Kultur nach Mitternacht, wie der StudierendenRat schreibt. Zu meiner Studienzeit ging es noch um das sogenannte Kampftrinken. Eigentlich schön, dass heute nur noch von Kulturtrinken die Rede ist. 1968 – war da was? Oder leben wir inzwischen in einem so glücklichen Land, dass die studentische Jugend sich nicht um mehr kümmern muss, als um die Öffnungszeiten von Kneipen.
Die Kolumne erschien am 31.5.2018 in der Berliner Zeitung.