Wetter, Klima, Pilotenstreik, #MeToo, #MeTwo: Es gibt vieles, worunter Menschen leiden. Aber wir sollten dabei die Maßstäbe nicht verlieren. Kolumne vom 9.8.2018
Es hat den Anschein, als hätten die nicht enden wollenden ungewöhnlich heißen Tage, in den Medien zum Jahrtausendsommer promoviert, stets neue Ungeheuer geboren. Halb Europa in Flammen, viel zu trockene Wälder, vertrocknete Felder. Unruhe an der Pommes-Front, denn wegen der anhaltenden Dürre rechnen die Bauern bei der Kartoffelernte mit einem Ausfall von bis zu fünfzig Prozent.
Ob der großen Hitze wollen uns die Meteorologen nun mit dem Jetstream vertraut machen: „Weil die Temperaturunterschiede zwischen Nordpol und Äquator mit der Erderwärmung sinken – der Nordpol erwärmt sich stärker –, verliert der Jetstream an Dynamik.“ Auch Greenpeace warnt: „Die Hitzewelle ist ein Vorgeschmack dessen, was uns an Wetterextremen mit fortschreitender Klimakrise droht.“ Bleibt die Frage, wie viele „Vorgeschmäcker“ wir noch brauchen, bis sich im Verhalten jedes Einzelnen etwas ändert.
Pilotenstreik und Hitzeopfer
Dieser Sommer scheint auch gleichzeitig die Jahreszeit der Opfer aller Schattierungen zu werden. Doch je mehr sich dieser Begriff im allzu Beliebigen auflöst, desto schwerer wird es, den wirklich Geschädigten Mitgefühl entgegenzubringen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Der ursprüngliche Anlass für diese Kolumne war die Nachricht vom Streik der Piloten und Fluglotsen bei der privaten Fluggesellschaft Ryanair. Mein erster Gedanke: ein Glücksfall für die geschundene Umwelt, Hunderte Flüge annulliert. Der zweite: Mitgefühl mit den Betroffenen, die auf Teile ihres Urlaubs verzichten müssen.
Bin ich nun ein Bruder Herzlos, wenn ich doch der Natur der Vorrang einräume? Die hat sich immerhin kürzlich im Flughafen Hannover selbst geholfen, als Start- und Landebahnen wegen Hitzeschäden gesperrt werden mussten.
Als Konsequenz aus dem Streik fällt dem Billigflieger-Chef O’Leary nicht etwa eine gerechtere Entlohnung der Beschäftigten ein, sondern die Verlagerung von 300 Stellen aus Dublin in das willfähriger eingeschätzte Polen. Könnte ja sonst sein, dass ein Billigflug teurer werden müsste als so manche Taxifahrt zum Flughafen.
Auf #MeToo folgt #MeTwo
Während eine ausufernde MeToo-Debatte mit Tätern und Opfern langsam ausklingt, geißelt ein neuer Twitter-Hashtag jetzt den Alltagsrassismus. Auf #MeToo folgt #MeTwo. Aber wie verwirrt mögen unsere Sinne inzwischen sein, wenn wir als Maßstab für gelungene Integration ausgerechnet den Fototermin eines in London lebenden Kicker-Millionärs nehmen?
Es bleibt dabei: Für Demokraten jedweder Wurzel war das Selfie mit dem türkischen Autokraten ein unfreundlicher Akt. Nicht mehr und nicht weniger. Diese Selbstinszenierung darf von jedermann kritisiert werden, ohne in Rassismusverdacht zu geraten. Die Hasstiraden aus der Tiefe des Netzes, Unterabteilung Kloake, scheinen heutzutage wohl unvermeidlich. So viel zu der überaus breit diskutierten Opfer-Causa „Ö“.
Auch ich merke, dass die sprichwörtlichen zwei Herzen immer häufiger in meiner Trichterbrust schlagen. Darf ich mich freuen, wenn das „soziale Netzwerk“ Facebook in die Regulierungsfalle rutscht und an der Börse abgestraft wird? Oder soll ich gar den geschädigten Börsianern solidarisch zur Seite springen, da sie ja schließlich Opfer sind?
Bei jeder viel zu seltenen Niederlage des Internetkraken Amazon geht es mir ähnlich. Konkurrieren doch beide unter den üblen globalen Unternehmen um die Spitzenplätze.
Vielleicht sollte ich es einmal in meiner Not mit Doppelherz versuchen. Jenem Vitaltonikum mit 17 Prozent Alkoholgarantie und Wohlfühlfaktor. In jeder Apotheke rezeptfrei erhältlich.
Die Kolumne erschien am 9.8.2018 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.