Laudatio auf Klaus Staeck, Träger der Richard-Benz-Medaille der Stadt Heidelberg 2018, von Jochen Hörisch
Juristen sind (wie Mediziner) in der Schriftsteller-Zunft auffallend häufig vertreten. Höhenkamm-Autoren wie Goethe, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine, Theodor Storm, Peter Handke oder Bernhard Schlink (um nur sie zu nennen) waren beziehungsweise sind studierte Juristen mit zum Teil steilen berufsspezifischen Karrieren.
Juristen sind hingegen in der Sphäre der bildenden Kunst nur selten anzutreffen.
Der Grund dafür ist schnell benannt. Juristen und Schriftsteller verfahren kasuistisch, sie sind auf Fälle, durchaus auch Ausfälle, Unfälle und Fallhöhen fokussiert; ihr gemeinsames Medium ist die Sprache. Bildende Künstler sind hingegen Sprachskeptiker; sie geben ihren Werken einen Titel (oder auch nicht), und sie signieren es (oder auch nicht) – that’s it. Ihre Werke leben vom Pathos des sprachkritischen Satzes, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte.
Viele bildende Künstler wie auch Musiker sind aus naheliegenden Gründen nicht sehr kommunikativ; Ausnahmen wie Joseph Beuys oder Richard Wagner bestätigen die Regel. Ob er so freundlich sei, seine soeben gespielte neue Sonate zu interpretieren, wurde einer bekannten Anekdote zufolge Robert Schumann gefragt. Gerne, antwortete er und spielte sie noch einmal.
Klaus Staeck ist Jurist, dem per definitionem nichts Weltliches
fremd ist, bildender Künstler und ein sprachgewandter Mann
beziehungsweise ewiger Jüngling, ein puer senex eternus. Das ist eine ungewöhnliche Konstellation. Da fehlt doch noch was in dieser Aufstellung, werden Sie, meine verehrten Damen und Herren, sagen. Und Sie haben Recht. Denn Klaus Staeck ist darüber hinaus ein ungewöhnlich souveräner Organisator; wie er über lange Jahre hinweg als Präsident die Berliner Akademie der Künste durch stürmisch bewegtes Wasser navigiert hat, wäre Grund genug für Stolz auf eine große Lebensleistung. Die Befürchtung vieler Heidelberger, Klaus Staeck könne sich aus dieser wunderbaren Stadt, in der er seit einem halben Jahrhundert lebt, in die Metropole Berlin absetzen, war glücklicherweise unbegründet. Die Verleihung der Stadtmedaille, die nach dem Heidelberg-Enthusiasten Richard Benz benannt ist, ist ein Zeichen der Dankbarkeit dafür, dass Klaus Staeck zwar überall, aber eben doch besonders in Heidelberg präsent ist – also in einer Stadt, in der immer wieder die Spannungen zwischen romantischer Ästhetik und Max-Weber-Nüchternheit, Enthusiasmus und Intellektualität, Naturbegeisterung und Naturbeherrschung ausgetragen werden.
Bekannt ist Klaus Staeck nicht nur als Künstler mit einem ungewöhnlich prägnanten Werk und als ebenso umsichtiger wie entschiedener Akademie-Präsident, sondern auch als politisch hellwacher Zeitgenosse. Das ist doch nichts Besonderes, werden einige oder viele von Ihnen sagen und wiederum Recht haben. Dass Schriftsteller, bildende Künstler und Musiker sich politisch äußern und engagieren, ist nämlich nicht die Ausnahme, sondern fast schon die Regel. Nur – ich zögere, das zu sagen, gebe mir aber einen Ruck: Um die politische Urteilskraft von Künstlern ist es nicht sehr verlässlich bestellt. Keinerlei Indizien sprechen dafür, dass die politische Kompetenz von Künstlern per se größer, besser und subtiler entwickelt ist als die von anderen Berufszweigen (etwa von Studienräten, Softwareentwicklern, Handwerkern, Angestellten, Medizinern, Verkäuferinnen oder Landwirten).
Was große Schriftsteller, bildende Künstler und Komponisten politisch zum Besten gegeben haben, entsprach nicht immer dem ästhetischen Niveau ihres Oeuvres. Es genügt, einige wenige große Namen zu evozieren, um der schlichten These von der verbreiteten politischen Inkompetenz der ästhetischen Branche Nachdruck zu verleihen. Gottfried Benn, Knut Hamsun und Céline (die sich Hitler andienten), Picasso (mit seinen Stalin-Huldigungen) und Salvador Dali (mit seinen protofaschistischen Neigungen), Richard Wagner und Roger Waters (mit ihrem pathologischen Antisemitismus) haben wie viele andere Künstler mehr faszinierende Werke hervorgebracht und sich – um es zurückhaltend zu formulieren – als politisch urteilende Zeitgenossen gründlich desavouiert. Um von den reichlich vorhandenen Extrembeispielen auf weichere auszuweichen und wiederum scheu zu formulieren: Ich würde mich nicht sonderlich wohlfühlen, wenn Peter Handke und Botho Strauß, Karlheinz Stockhausen und Hans Werner Henze, Jonathan Meese und Jörg Immendorff entscheidenden Einfluss in der Politik oder gar machtvolle politische Ämter inne (gehabt) hätten. Wollen die ja auch gar nicht, werden Sie wiederum zu Recht sagen. Ab und an wollen Sie doch (wie der Romanschriftsteller Goebbels oder der expressionistische Lyriker Johannes R. Becher); ab und an geht das sogar gut (wie bei Goethe oder Malraux), aber darauf ist kein Verlass. Deshalb bleibe ich bei meiner These: Es gibt keine Gründe zu der Vermutung, dass die politische Urteilskraft von Künstlern aller Sparten derjenigen der Durchschnittspopulation signifikant überlegen ist – eher gilt das Gegenteil.
Weil dem so ist, ist Klaus Staeck ein Sonderphänomen, ja ein Unikat. Wäre er Bundeskanzler, würde ich, anders als wenn Jonathan Meese dieses Amt innehätte, nicht emigrieren. Man muss sich vergegenwärtigen, wie selten die Koinzidenz eines ästhetisch bedeutenden Werkes und sicherer politischer Urteilskraft ist, um die Sonderrolle von Klaus Staeck in der ästhetischen wie der politischen Sphäre zu ermessen. Dass er diese Sonderrolle so souverän wahrnehmen kann, hat mindestens drei Gründe. Der erste ist schnell genannt: Klaus Staeck widersteht lässig der in Künstlerkreisen verbreiteten Versuchung, eine Rolle, also eine Funktion, nicht nur ernsthaft bis heiter zu spielen, sondern sie auch zu inkarnieren. Er verzichtet ostentativ (also schon im Outfit und Auftreten) auf jede Anwandlung eines Gurus, einer auratischen Ausnahme, eines Sehers, Verkündigers oder Missionars; er, der leidenschaftlich-nüchterne Sozialdemokrat ist Bürger, Mitbürger wie andere auch. Der zweite Grund erschließt sich ebenfalls bald: Viele Künstler erheischen Aufmerksamkeit um jeden Preis und zahlen dafür einen hohen Preis. IhreBotschaften und Ausdrucksmittel sind schrill, exzentrisch, extrem, radikal, rücksichtslos, militant, zumutungsreich, schockierend. Das hat seine, wenn nicht immer guten, so doch nüchtern nachvollziehbaren Gründe. Denn die Funktion von Kunst ist es nun einmal, unwahrscheinliche bis abwegige Wahrnehmungen, Thesen und Botschaften bereitzuhalten und mit gängigen Realitätsversionen zu konfrontieren. Moderne Kunst hat dieses Spiel so erfolgreich gespielt, dass Nonkonformismen aller Art seit langem der Standardfall sind. Fast alle aufgeklärten Zeitgenossen der späten Moderne halten sich für Nonkonformisten, die dem Mainstream mutig widersprechen – so handfest erfüllt sich die von Joseph Beuys ausgesprochene Verheißung, dass jeder Mensch ein Künstler ist.
Klaus Staeck ist der leidenschaftlich kühle Analytiker dieser Paradoxie, womit wir beim dritten und wichtigsten Grund für seine Sonderstellung im ästhetisch-politischen Getriebe der Republik sind. Er bezieht seine ästhetischen wie politischen Impulse nicht aus einer forcierten Radikalität voll exzentrischer Lust an Extremen, sondern aus Respekt vor den humanistischen Werten, die selbstverständlich sein sollten, aber genau dies (zumal in Zeiten gespenstisch wiederkehrender rechtsradikaler Gefahren) offenbar nicht sind. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die ganz großen Namen der Kulturgeschichte (und insbesondere der deutschen Kulturgeschichte – prototypisch seien Goethe und Thomas Mann genannt) ihren berechtigten Ruhm gerade nicht formalen und inhaltlichen Exzentrizitäten, sondern dem Umstand verdanken, dass sie das lausible, Humane, Empathische, Aufklärende, von Zwängen aller Art Befreiende als das Bedrohte, zu Rettende, Durchzusetzende und in diesem Sinne Unkonventionelle ästhetisch reizvoll präsentiert und beworben haben. Um es zugespitzt zu sagen: Die vielen verwöhnten Köpfen langweilig erscheinende sozialdemokratische Vernunft (von der Angela Merkel ja auch weite Teile der CDU überzeugt hat) ist und bleibt das eigentlich auf- und anregende Programm. In Zeiten, in denen die Partei, der Klaus Staeck solidarisch seit Jahrzehnten verbunden ist, die Fünfprozentklausel fürchten muss, verliert die These, dass ein im Wortsinne sozialer wie demokratischer Mainstream der eigentliche Nonkonformismus ist, leider seine steil scheinenden Qualitäten.
Klaus Staecks Werk gelingt es in einer verblüffend anmutigen Weise, die viele eben deshalb als zumutungsreich bekämpfen, dem Motiv des humanistischen Mainstreams als bedrohter Außenseiteroption Ausdruck zu verleihen. Seine berühmte Plakatkunst ist so komplex wie prägnant – das muss ihm erst einmal jemand nachmachen. Das Moralische versteht sich von selbst; dass der Mensch edel, hilfreich und gut sein solle, ist beziehungsweise wäre eine höhere Trivialität, wenn sie denn die Durchsetzungskraft von Trivialitäten hätte. Doch genau dies ist zumeist nicht der Fall. Deshalb überzeugen die Werke von Klaus Staeck durch ein kluges und ästhetisch ansprechendes Verfahren. Seine Plakate sind nicht plakativ, sondern in produktiver Weise irritierend. Sie nehmen, um ein Wort von Walter Benjamin zu paraphrasieren, dem gedankenlosen Müßiggänger die wohlfeilen Meinungen und Voreingenommenheiten, indem sie sich ganz auf die Rezipienten einlassen und sie ernst nehmen. An zwei seiner berühmtesten nichtplakativen Plakate lässt sich das unschwer demonstrieren. 1972 reproduzierte Klaus Staeck einen der im kollektiven Bildgedächtnis gespeicherten Stiche Dürers – das Porträt seiner alten, von einem harten Leben gezeichneten Mutter und versah es mit der Frage: „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ Pointierter, knapper, prägnanter kann Kunst, die in jedem Wortsinne bewegen und motivieren will, nicht sein. Staecks Dürer-Paraphrase versetzt, verrückt ein Bild aus seinem musealen Kontext in eine Lebenswelt, in der sich das Kunstwerk erst recht entfaltet. Denn es ermuntert und ermutigt, vermeintlich Vertrautes anders und neu zu sehen. Es verrückt verrückte Maßstäbe. Das gelingt auch dem berühmtesten Plakat von Klaus Staeck: „Deutsche Arbeiter!“ steht da in Frakturschrift zu lesen. „Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“ steht sodann in moderner Schrifttype zu lesen. Unter diesem Satz, der es bei aller Kürze versteht, kindisch irrationale Signale der politischen Wahlkampfsprache offenzulegen (es heißt ja kindersprachlich und sandkastenpsychologisch „wegnehmen“, nicht „besteuern“ oder gar „enteignen“) – unter diesem Satz ist eine bemerkenswert schräge, wie ein Bollwerk oder eine Festung sich ausnehmende Berg-Villa im Brutalobetonmodernismus-Stil zu sehen. Ein schräges Plakat, das schräge und verrückte Ängste, Parolen und Impulse seinerseits verrückt, geraderückt, zurechtrückt.
Kunst ist dann am stärksten, wenn ihr Überraschungen gelingen. Wer beim Betrachten eines Werkes nicht sagt „So habe ich das (diese Mimik, diese Landschaft, diesen Holzschuh, diesen vereisten See, diesen hier porträtierten Menschen, diese politische Problemlage) bislang noch nicht gesehen“, hat kein bedeutendes Werk betrachtet. Zu den Vorzügen der Kunst von Klaus Staeck gehört es, dass sie nicht das Selbstverständliche wie „auch ich bin für den Frieden und die Gerechtigkeit“ sagt, sondern darlegt, warum es das eigentlich Selbstverständliche so schwer hat. Weil es, um ein zu Unrecht aus der Mode gekommenes Wort zu bemühen, wirkungsmächtige Ideologien, also Logiken der falschen und trügerischen Bilder gibt. Klaus Staecks Werk evoziert diese verdunkelnden Ideologien, um sie sodann zu erhellen. In Zeiten, in denen Fake News zum Normalfall werden, ist seine Kunst aktueller und wichtiger denn je.
Klaus Staeck ist auch als Bild- und Wort-Künstler ein Jurist, der an Gerechtigkeit glaubt, sie einfordert und fördert, ein auch in diesem Sinne bildender Künstler, der souverän Sachverhalte und Tatbestände aufklärt und erhellt. Sein Werk kreist in steter Frische um die Maxime einer gerechten sozialen und politischen Ordnung, in der es sich lohnt, ein Mensch zu sein.
Prof. Dr. Jochen Hörisch ist seit 1988 Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim.
Ein Gedanke zu „Die politische Kompetenz des Künstlers“