Kolumne vom 23.3.2017
Auch wenn die Rechten es als Munition für ihren Wahlkampf nutzen: Über stehlende Banden muss offen geredet werden.
Wer schon einmal von Taschendieben heimgesucht wurde, der ist um eine Erfahrung reicher, um die ihn niemand beneiden wird. Denn der Verlust der schönen Scheine ist oft das geringste Übel, wenn man an Terminsuche und Wartezeiten auf den Bürgerämtern denkt, um wieder zu einem Ausweis zu kommen. Von den Chancen der Aufklärung reden wir gar nicht erst, denn die Quote liegt höchstens bei 5 Prozent.
Regelmäßig veröffentlicht die Berliner Polizei die „Schwerpunktkarte Taschendiebstähle“: ein grün-gelber Flickenteppich mit orangenen Hotspots zwischen Alexanderplatz und Kreuzberg. Der bunten Karte kann man noch ein paar Zahlen hinzufügen: innerhalb eines Jahres stiegen bei der Polizei angezeigte Taschendiebstähle von 40.400 auf 44.722. Die für die Bahnhöfe zuständige Bundespolizei konnte für den gleichen Zeitraum ein Wachstum um mehr als 14 Prozent auf 23.748 Fälle melden.
Bei den seit Jahren stetigen Steigerungsraten und einer enormen Dunkelziffer nicht angezeigter Delikte sollte die momentane Ruhe, mit der diese Entwicklung wie ein unausweichliches Naturereignis hingenommen wird, nicht unterschätzt werden. Denn der Staat muss offensiv zeigen, dass er die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten kann. Schließlich handelt es sich um nichts Geringeres als um grenzüberschreitende, bandenmäßig betriebene, organisierte Kriminalität.
Polizisten klagen über ihre Frust-Erfahrungen, wenn sie den gleichen Dieben immer häufiger wiederbegegnen. Es gibt nämlich keinen Grund für diese, sollten sie zwecks Feststellung der meist bekannten Personalien aufs Revier gebracht worden sein, schnell wieder in die Heimat zurückzureisen. Berliner Richter stellen angeblich selten Haftbefehle aus, wenn die Ermittler nicht eindeutig nachweisen können, dass bandenmäßig gestohlen wurde, es sich nicht um Einzeltäter handelt, Flucht- und Wiederholungsgefahr besteht. Da auch Mehrfachtäter nicht inhaftiert werden, weil für jeden Beschuldigten bis zur Verurteilung die Unschuldsvermutung gilt, bleiben die Diebe auf freiem Fuß und können weiter ihrem Gewerbe nachgehen.
Die Filmautoren des RBB Adrian Bartocha und Olaf Sundermeyer haben in einer mit dem Journalistenpreis „Der lange Atem“ gewürdigten Reportage exakt nachverfolgt, wie junge Leute im rumänischen Jasi das Diebeshandwerk erlernen, um von den Eltern, die im täglichen Überlebenskampf stehen, nach Europa geschickt zu werden. Unbekannte, mächtige Paten – die eigentlichen Großkriminellen – organisieren im Hintergrund Unterkunft und Einsatzplanung von Madrid bis Berlin.
Nun gibt es zum Glück auch Erfolge zu verzeichnen, wenn die Bundespolizei einer Bande aus dem Kosovo in einem dreiviertel Jahr 26 Diebstähle auf gestoppten Rolltreppen nachweisen konnte, oder endlich drei Mitglieder einer Familie aus Jasi dank enger Kooperation mit den rumänischen Behörden wegen schamloser Ausbeutung ihrer Kinder für mehrere Jahre aus dem Verkehr gezogen werden konnten.
Angesichts der Gesamtzahlen vielleicht Marginalien, dennoch erwähnenswert, weil die Gegner offener Grenzen in Europa und die Rufer nach „Abschiebung für alle“ aus der rechten Ecke längst die Brisanz des Anstiegs der Delikte als Wahlkampfmunition nutzen. Sundermeier erhielt nach seiner Reportage ein gönnerhaftes Schulterklopfen des Berliner NPD-Landesverbandes. Das wird den erfahrenen Rechtsextremismus-Experten und Pegida-Beobachter kaum beirren und sollte auch anderen Journalisten Mut machen trotz Beifall von der falschen Seite unbestechlich zu beobachten und zu berichten.
Der Text erschien am 23.3.2017 in der Frankfurter Rundschau und unter dem Titel „Taschendieb-Tourismus“ am gleichen Tag in der Berliner Zeitung.