Die Namenlosen 

Kolumne 12. August 2011

„Anonyme Briefe werden nicht veröffentlicht und landen im Papierkorb!“ Ein heute geradezu anachronistisch anmutender Satz, an den sich jede Redaktion über Journalistengenerationen hinweg zu halten hatte, wollte sie von den Lesern ernst genommen werden.

Jetzt soll alles anders sein. Seit genau 20 Jahren ist das Internet im öffentlichen Gebrauch, und damit haben wir uns, wenn ich der Blogger- und Internetforen-Community noch folgen kann, von einer Konvention zu verabschieden. Nun soll gelten: Meine Meinung, die anderen möglicherweise nicht passt, entlasse ich per Mausklick in die Öffentlichkeit und unterzeichne mit Phantasienamen. Ich kann mutig sein, scharf bis zur Beschimpfung, mobbe den Gegner mit Klarnamen und klicke auf „senden“.  Verantwortung? Mir kann keiner, denn ich bin anonym. Eigenartige Sitten hat diese globale elektronische Kommunikation hervorgebracht. 

In analogen Zeiten habe ich Plakate entworfen, gedruckt und aufgehängt. Auf allen stand mein Name. Jeder wusste also, wessen Meinung hier öffentlich wurde. Wem sie nicht gefiel, der konnte mir wütende Briefe schreiben, einige haben die Plakate abgerissen oder mich angezeigt. Auf diese Weise habe ich es immerhin zu 41 Prozessen mit einer nicht zu unterschätzenden öffentlichen Aufmerksamkeit gebracht – von den anonymen Morddrohungen einmal abgesehen.

Freilich hatte ich nicht nur Glück. Denn die vom Grundgesetz garantierte Meinungsfreiheit war stets auf meiner Seite. Haft oder Gefahr für Leib und Leben musste ich als freier Künstler in der Bundesrepublik nicht befürchten. Was sollte sich also in unserer heutigen Demokratie denn derart verändert haben, dass der Träger einer noch so harmlosen oder auch noch so provokanten Meinung sich nicht mehr mit offenem Visier zeigen kann? Anonymität als Grundrecht? Ja, wenn es um das Arztgeheimnis, um soziale Ausgrenzung, um den Schutz persönlicher Daten und selbstverständlich, wenn es um den Kampf gegen eine Diktatur geht. Aber wenn mir jemand seine Meinung im öffentlichen Diskurs sagen will, dann sehe ich ihm lieber ins Gesicht. Schließlich ist die Demokratie kein venezianischer Karneval, wo jeder hinter der Maske der Anonymität verschwinden kann. Das Leben in der Demokratie erlaubt und verlangt Courage. Öffentlich eine Position zu verteidigen und sich dabei einer Tarnkappe zu bedienen, kann nicht im Ernst als zivilisatorischer Fortschritt des digitalen Zeitalters gefeiert werden. 

Natürlich weiß ich auch, dass nicht mal eine gewaltige Kontrollbehörde in der Lage wäre, alle Internetnutzer zu identifizieren. Von der Unmöglichkeit, auf Webseiten Einfluss zu nehmen, die jenseits unserer Grenzen gehostet werden, gar nicht zu reden. So hat auch Herr Friedrich inzwischen von TAZ bis FAZ Nachhilfeunterricht in Sachen Internet bekommen. Aber die braunen Hassorgien zum Beispiel, die täglich auf den Naziportalen von „Altermedia“ und dem Thiazi-Net der „germanischen Weltnetzgemeinschaft“ im Internet gefeiert werden – ausschließlich von anonymen Verfassern – sind unerträglich, ebenso wie kinderpornografische Seiten, die weltweit nicht unter die freie Meinungsäußerung fallen.

Statt berechtigter Kritik mit Spott und Häme zu begegnen, sollte sich deshalb die Netzgemeinde in ihrem gelegentlichen Eifer lieber Gedanken darüber machen, wie man zu einem international geltenden Codex mit verbindlichen Regeln kommt – jenseits von straf- und zivilrechtlichen Sanktionen. Schon um die anonym verbreitete Rassenhetze und Nazipropaganda zu stoppen. 

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