Das Kandidatenspiel

Kolumne 15. November 2011

Merkwürdig ist das schon. Da hat die amtierende Bundesregierung nun seit Monaten in der Bevölkerung keine Mehrheit mehr. Dennoch wird über Neuwahlen derzeit nur in Griechenland geredet.

Dafür wird als eine Art Kompensation umso heftiger öffentlich gerätselt, wen wohl die größte Oppositionspartei ins Rennen um die Kanzlerschaft schicken wird. Da sind sie wieder, die überbordenden Hilfsangebote an die noch unschlüssigen Sozialdemokraten. Es ist wie vor der letzten Bundestagswahl. Erneut werden die Sozis wieder fürsorglich belagert von einer Meute von Hilfswilligen, die über alle Parteigrenzen hinweg die noch Zaudernden mit guten Ratschlägen geradezu überhäufen.

Schon 2009 waren die medialen Reihen fest geschlossen. Galt es doch der zögerlichen Partei bei der Aufstellung ihres Spitzenkandidaten freundschaftlich unter die Arme zu greifen. Da es alle nur gut mit der alten Tante meinten, galt es schon damals, die SPD in der Kandidatenfrage auf den richtigen Weg zu stoßen. Das hieß konkret, ihr den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten auszutreiben. Kurz vor dem großen Halali schickte die FAZ noch den greisen Historiker Professor Wehler als Treiber an die Medienfront. Der promovierte das zum Fangschuss freigegebene Wild kurzerhand zum „Waldschrat aus der Pfalz“, untauglich für Berlin. Als schließlich die vereinigten Medien mit Teilen der Sozis via BILD über Bande spielten, wurde das Schicksal des Pfälzers am Schwielowsee spektakulär entschieden.

Nun ist die Ausschaltung eines Kandidaten vergleichsweise einfach. Jemand aufzubauen dagegen um einiges schwieriger. Dass man auch hierbei erfolgreich sein kann, belegt die Erinnerung an das Wahljahr 1998. Sechzehn lange Kohl-Jahre hatten die Bevölkerung mürbe gemacht, bereit für jede Alternative. Nachdem das Mediengericht den Saarländer zum gefährlichsten Mann Europas stilisiert hatte, war der Weg frei für den Wunschkanzler aus Niedersachsen.

Jetzt läuft ein neues Spiel. Solange sich die bockigen Genossen aus – ihrer Sicht – wohlerwogenen politischen Gründen weigern, schon jetzt den Kandidaten zu benennen, muss nachgeholfen werden. Wieder hat sich das Medienkonzil darauf geeinigt, wer es werden soll: ein ehemaliger Finanzminister. Die zaghaften Einwände der mehr oder weniger Zuständigen werden als Eingriff in eigene Angelegenheiten schroff abgewehrt. Dass bei der Kandidatensuche die eigene Partei auch noch ein Wort mit zu reden habe, wirkt in Zeiten allgemeiner Parteienfeindlichkeit wenig überzeugend.

Derweil scheint der medial Auserwählte an der ihm zugewiesenen Rolle zunehmend Gefallen zu finden. Bisheriger Höhepunkt des öffentlichen Schaulaufens war das Hochamt beim Gottvater der täglichen Talkshows. Unübertrefflich wie dort der Altbundeskanzler seinem Enkel den hanseatischen Segen erteilte. Früher hieß es, die Talkshow ersetzt den Ortsverein. Heute tritt sie an die Stelle ganzer Parteitage. Wofür also noch die aufwändigen Zusammenkünfte der Delegierten aus allen Provinzen, wenn die Sache doch anderweitig längst entschieden wurde. Demokratie hin – Demokratie her.
Jedenfalls werden wir alle zu Teilnehmern eines interessanten Feldversuchs. Wird es den medialen Wortführern, die längst die Rolle der Beobachter mit der der Entscheider getauscht haben, wieder  gelingen, ihren Favoriten in die Wahlschlacht zu schicken, alle zuständigen Gremien und Instanzen austricksend? Besonders in Zeiten wie diesen können zwei Jahre sehr lang sein.

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