Empört euch weiter!

Kolumne 5. Dezember 2011

Kürzlich wurde Stéphane Hessel in Berlin geehrt. Wieder einmal. Und vielleicht wird ihm das noch oft widerfahren, denn der 94jährige ist in seinem geradezu jugendlichen Enthusiasmus nicht aufzuhalten. Der Autor der Streitschrift „Empört Euch!“ muss jeden bezaubern, der ihm mit Sympathie begegnet und sich auf seine rigorose Aufforderung einlässt. 
Seine Empörung ist die Reaktion auf die immer schärfer hervortretenden Konfliktpotentiale in der Welt, etwa in den sozialen Verwerfungen zwischen Arm und Reich, im Raubtierkapitalismus der Finanzhaie, in der Umweltzerstörung und der Ignoranz gegenüber dem drohenden Klimakollaps, im fortdauernden Rassismus und bei der Verletzung der Menschenrechte. 

Als vor gut einem Jahr Hessels schmales Büchlein erschien und nach wenigen Wochen in über 20 Ländern nachgedruckt wurde, auf Bühnen rezitiert, auf Demonstrationen europaweit geschwenkt – da war ihm nicht nur der Beifall sondern auch gleich das Misstrauen sicher. Er könne nur die Makel des Kapitalismus und die Probleme in der Welt benennen. Aber wo blieben seine Lösungsvorschläge? Vorgeworfen wurde ihm auch, er, der aus einer jüdisch-deutschen Familie stamme, greife Israel an. Diese Kritiker geben sich alle Mühe, zu verkennen dass es Hessel um nichts anderes geht als um eine friedliche Zukunft dieser Region, in der der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in gegenseitigem Respekt gelöst werden muss.

Hessels Radikalität im Einsatz für die Menschenrechte hat ihm selbst in Frankreich, dessen Staatsbürger er seit über 70 Jahren ist, bei aller Verehrung auch Feindschaft eingebracht – zuletzt sogar das Redeverbot an einer renommierten Hochschule seines Heimatlandes. 
Der Résistance-Kämpfer, der ehemalige KZ-Häftling von Buchenwald und Dora, Mitarbeiter an der UN-Charta der Menschenrechte und „Diplomat auf Lebenszeit“ ist ein gebildeter, liebenswürdiger, heiterer Mensch. So stellen wir uns keinen vor, dem man in Deutschland den Titel „Wutbürger des Jahres“ verleihen könnte. Hessels Appell zur Empörung will auch gar nicht die blinde Wut und schon gar keine Gewalttaten provozieren. Ihm geht es darum, dass wir „nicht einfach so wie die letzten zwei Jahrhunderte weitermachen nach der Devise ‚Immer mehr und mehr’, sonst ist es vielleicht aus für uns in fünfzig Jahren. Wer dies erkennt, muss sich als Weltbürger empören.“ 
Hessel, der durch Glück und Solidarität am Leben blieb und wohl auch deshalb fortan bewusster lebte als andere Menschen, empfindet auch um so intensiver eine Verantwortung für die nächsten Generationen. Seine Botschaft ist gespeist aus der Erfahrung von Willkür und Gewalt aber auch aus dem Kampf gegen menschenfeindliche Zustände. Sein Rat an uns, die Gleichgültigkeit zu überwinden, sich zu engagieren, Verantwortung für den Lauf der Dinge in der Welt zu übernehmen, scheint irrational zu sein in einem Moment der Wirtschafts- und Finanzkrise, in der selbst das Handeln seriöser Politiker nur noch von den imaginären Märkten bestimmt zu sein scheint. Und dennoch hat er recht, dass die Zustände sich nicht ändern werden, wenn wir uns vom Auf- und Ab der Daxkurven paralysieren lassen und dem Ende eines mit großen Hoffnungen geeinten Europas entgegenbibbern. Deshalb beschwor Stéphan Hessel vor einigen Tagen in Berlin am Pariser Platz die besseren Zeiten deutsch-französischer Verständigung und Freundschaft.

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