Kolumne 27. August 2015
Im Winter 1945 erfror meine Großmutter auf der Flucht aus Hinterpommern in einem Wald. Nach Kriegsende wurde meine Heimatstadt Bitterfeld von einer sanften Flüchtlingswelle überrascht. Es kamen vor allem katholische Sudetendeutsche – Anlass für Misstrauen in einer protestantischen Gegend. Die einquartierten Neubürger wurden nicht sehr freundlich begrüßt.
Ich selbst bin 1956 ganz unspektakulär aus der DDR geflüchtet, stieg in den Zug ohne Rückfahrkarte und galt als Republikflüchtling – mein C-Ausweises weist mich als anerkannten politischen Flüchtling aus. Von Ausnahmen abgesehen wurden wir in der Bundesrepublik nicht gerade willkommen geheißen. Oft hieß es: „Was wollt ihr alle hier?“ Es kamen einfach zu viele. All das ist heute Erinnerung und unvergleichbar mit der aktuellen Situation.
In einer Welt mit immer mehr von Krieg und Unterdrückung verwüsteten sowie durch Armut geprägten Staaten sind immer mehr Menschen auf oft lebensgefährlichen Wegen auf der Flucht. Niemand verlässt aus Abenteuerlust seine Heimat, den Tod in Kauf nehmend.
Mich erschrecken die Bilder vom mazedonischen Militär, das mit Tränengas, Blendgranaten und Schlagstöcken gegen erschöpfte Menschen vorging, um sie an der Weiterreise zu hindern. Die Flüchtlinge haben es eilig, denn nicht nur Orbans Ungarn ist eifrig dabei, völlig unangefochten einen Grenzzaun zu ziehen. Sein Land gehört offiziell zur EU. Übrigens: Deutschland begeht gerade den 25. Jahrestag des Berliner Mauerfalls. Gleichzeitig läuft ein Wettbewerb um die effektivste Abschreckung. Die Festung Europa ist dabei, ihren negativen Ruf zu festigen.
Deutschland steht auf der Kippe. Manchen Überlegungen vor allem bayrischer Politiker zum Trotz engagieren sich zahlreiche Bürger ganz praktisch. Ein großes Lob auf all die haupt- und ehrenamtlich Engagierten, die teilweise ihren Urlaub opferten, um Traumatisierten zu helfen. Ihnen gehören die Schlagzeilen, nicht den Rassisten und Brandstiftern.
Ja, es kommen sehr viele, für manche zu viele. Und natürlich steht die Demokratie wieder vor einer Bewährungsprobe. Einigermaßen beruhigend: mehr als die Hälfte unserer Mitbürger sind der Auffassung: „Wir schaffen das“. Eine noch größere Zahl verlangt ein Einwanderungsgesetz, das bisher an der Union scheiterte.
Auch Frau Merkel, die gern Politik nach Umfragen macht, sollte das ermutigen, die Moderatorenrolle zu verlassen und ihres hohen Amtes wirklich zu walten. Ihre Feststellung, das Thema Flüchtlinge „werde uns sehr viel mehr noch beschäftigen als Griechenland und die Stabilität des Euro“ reicht nicht aus. Während wieder Heime brennen und „brave“ Bürger hemmungslos die Parolen des rechten Mobs mit grölen, ist es Zeit, dass die wehrhafte Demokratie ihr staatliches Gewaltmonopol energischer wahrnimmt.
Die Landtagswahlen 2016 sind der Lackmustest für alle Parteien, das Flüchtlingsthema nicht zum Anlass für einen schmutzigen Wahlkampf zu nehmen. Während Staat und Zivilgesellschaft versuchen, den wachsenden Anforderungen gerecht zu werden, leisten wir uns einen bizarren Sommerlochstreit um die Stiftung, die Til Schweiger dem Gerede zum Trotz auf die Beine stellen will, um Flüchtlingen zu helfen. Er hat Recht, wenn er im Interview mit dieser Zeitung die Leute in Freital oder anderswo so beschreibt: „Wo Ausländerfeindlichkeit direkt in Aktion tritt muss der Staat eben zwei Hundertschaften Polizei hinschicken. Denn diese Leute dort sind Feinde der Demokratie.“