Die Rechtskonservativen in Ungarn testen an lebenden Europäern, wie weit man die „nationale Revolution“ treiben kann. Kolumne vom 19.1.2012
Ich bin kein Befürworter kriegerischer Aktionen, doch Warnschüsse halte ich gelegentlich für notwendig. Offenbar glaubte Ungarns Ministerpräsident bis Dienstag, ein Warnschuss aus Brüssel habe bis zum Zielort Budapest seine Energie unterwegs aufgebraucht. Und er kann sicher sein, dass es in Brüssel genug Leute gibt, die Interesse daran haben, das Pulver feucht zu halten, damit es nicht zu laut dröhnt, falls doch einmal gefeuert werden müsste.
Anders kann man es nicht verstehen, wenn der hessische EU-Parlamentarier Michael Gahler dieser Tage im Deutschlandfunk sagte, er mache sich keine Sorgen um die Demokratie in Ungarn. Er bescheinige der ungarischen Regierung, mit der die Christdemokraten in permanenter Diskussion stünden, durch und durch rechtsstaatliche Verhältnisse. Auch der Lizenzentzug für die einzige oppositionelle Rundfunkstation ist für ihn eine Lappalie. Das behauptet nicht irgendjemand sondern ein deutsches Vorstandsmitglied der EVP-Fraktion, zugleich Mitglied des auswärtigen Ausschusses im Europaparlament.
Vielleicht stört ihn nicht einmal die Nähe zu einer Aussage seines Parlamentskollegen Andreas Mölzer von der FPÖ (zur Erinnerung: das war einmal die Haider-Partei), der sich und Ungarn, wie auch von Orban selbst zu hören, von einer „linken Verschwörung“ bedroht fühlt. „Die Hetzjagd zeigt jedoch, dass nicht in Ungarn sondern in der Europäischen Union freiheitlich demokratische Grundwerte verletzt werden,“ schreibt er in der jüngsten Ausgabe der „Jungen Freiheit“.
Für einige Europapolitiker geht im rechtskonservativen Orban-Ungarn nach wie vor alles seinen geregelten Gang und man beobachtet derzeit mit großem Interesse einen Laborversuch. Wie weit kann sich ein europäischer Staat wagen, der sich gerade die Republik aus dem Namen strich, der seine neue Verfassung mit nationalem Glaubensbrimborium einleitet, ein vergangenes Groß-Ungarn beschwört und dem Verdacht einer möglichen Grenzrevision nichts entgegensetzt.
Der Test an lebenden Europäern zeigt auch, wie weit es ein EU-Mitglied treiben kann, seine Bürger von Frührentnern zu Sozialhilfeempfängern zu degradieren, sich das Geld einer private Rentenkasse einzuverleiben, die richterliche Unabhängigkeit trickreich abzuschaffen, Führungsämter auf dubiose Weise langfristig mit Höflingen zu besetzen und letztlich bürgerliche Grundrechte Stück für Stück preiszugeben.
Am vergangenen Sonntagmittag kamen hunderte Menschen, viel mehr als die Berliner Schaubühne fassen konnte, zusammen, um der ungarischen Opposition ihre Sympathie zu versichern. Das eigentliche Thema „Antisemitismus in Ungarn“ wurde sehr schnell zu einer Generalabrechnung mit der antidemokratischen FIDESZ-Politik und den bisher äußerst zahmen, geradezu zahnlosen Reaktionen in der EU-Kommission und im Europäischen Parlament auf die ungarische Systemwende in Gestalt einer „nationalen Revolution“.
Die Philosophin Agnes Heller beschwor ihre Landsleute, dem antidemokratischen Bonapartismus Orbans mit einer geeinten Opposition entgegenzutreten, in der nicht jeder jedem ständig vorrechnet, wann wer wen in den letzten Jahren beleidigt habe.
Vielleicht schafft es eine solche schnell wachsende Oppositionsbewegung, noch vor einem Finanzkollaps Ungarn wieder demokratisch zu stabilisieren. Eine vage Hoffnung, aber immer noch besser als die pessimistische Aussicht, dass alles auch noch schlimmer kommen könnte.
Die Kolumne erschien zeitgleich in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.
Ein Gedanke zu „Orbans Bonapartismus“