Klaus Staeck: „Unsere Verfassung ist ein Glücksfall!“

Mannheimer Morgen, 23.05.2024, Interview zu „75 Jahre Grundgesetz“

Der Heidelberger Satire-Plakatkünstler und Jurist hat zwei totalitäre Systeme erlebt und sieht das Grundgesetz nach 75 Jahren trotz aller Schwierigkeiten als stabile Erfolgsgeschichte – auch wenn Staeck die Demokratie generell für die anfälligste Staatsform hält. VON JÖRG-PETER KLOTZ 

Sollte mit Handschuhen angefasst werden: die Originalausgabe des Grundgesetzes von 1949.
Sollte mit Handschuhen angefasst werden: die Originalausgabe des Grundgesetzes von 1949. © ODD ANDERSEN/DPA
Klaus Staeck in seiner Heidelberger Galerie.
Klaus Staeck in seiner Heidelberger Galerie. © UWE ANSPACH/DPA

Herr Staeck, Sie haben als Kind noch das Dritte Reich erlebt und sind mit 18 Jahren aus der DDR geflohen. Vor diesem biografischen Hintergrund, als Jurist und streitbarer Satire-Plakatkünstler sind Sie der ideale Ansprechpartner für die Frage: Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz – ist das für Sie eine reine Erfolgsgeschichte?

Klaus Staeck: Natürlich, unsere Verfassung ist ein Glücksfall! Ob es eine reine Erfolgsgeschichte ist, bleibt stets eine Frage. Wir leben im Augenblick in einer recht schwierigen Zeit, die existenziell für sehr viele Menschen ist. Ich muss nur abends durch die Hauptstraße gehen und sehen, welches Geschäft als Nächstes schließt. Denn die Leute kaufen inzwischen oft die notwendigsten Dinge im Internet und vergessen, wie wichtig die Infrastruktur einer Stadt ist. Auch vom Gemeinschaftssinn her.

Die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes haben die Verfassung unter dem Eindruck des Nationalsozialismus vor allem als eine Art Schutzwall gegen einen Rückfall in den Totalitarismus konzipiert. Funktionieren die Checks and Balances bis heute?

Staeck: Also, wenn ich an diesem Punkt begänne, Zweifel anzumelden, dann wäre ich schon in großer Sorge.

Trotzdem diskutieren wir derzeit darüber, wie wehrhaft unsere Demokratie ist – trotz des starken Grundgesetzes, das vielen Ländern nach Systemwechseln als Vorbild gedient hat. In Ungarn oder Polen vor dem Regierungswechsel konnte man aber sehen, wie Pressefreiheit oder die Gewaltenteilung durch die Schwächung von Justiz und Verfassungsgerichtsbarkeit systematisch erodierte.

Staeck: Wir sind leider umgeben von diesen Fällen. Manchmal traue ich kaum noch, abends die TV-Nachrichten anzusehen (lacht).

Es gibt Stimmen, die das Grundgesetz gern modifizieren würden – etwa um die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts abzusichern. Halten Sie das für notwendig?

Staeck: Sagen wir es so: Hienieden auf Erden ist fast nichts wirklich perfekt. Wer das von menschlichem Tun erwartet, der geht in die Irre. In so einer Situation wie jetzt auch noch eine Verfassungsdiskussion zu beginnen, halte ich für falsch. Zumal es zurzeit Kräfte gibt, die etwas ganz Anderes im Sinn haben. In Wahrheit brauchen wir unsere ganze Energie, unsere demokratische Energie, um die Demokratie zu erhalten – gegen die Einflüsse, die sie bedrohen. Jemand hat mal gesagt „Die Demokratie ist immer gefährdet“. Es ist die anfälligste Staatsform, die es gibt. Das ist so. Weil man nie alle Schwierigkeiten voraussagen kann, die sich in der Welt ergeben. Wenn man wie ich Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht hat und in der DDR groß geworden ist bis zum 18. Lebensjahr, dann weiß man die Demokratie möglicherweise noch mehr zu schätzen, als jemand, der in sie hineingeboren wurde; dann empfindet man sie vielleicht als Selbstverständlichkeit. Aber Demokratie ist nicht selbstverständlich und immer gefährdet!

Bei Wahlerfolgen der AfD etwa bei der anstehenden Landtagswahl in Thüringen befürchten Experten Eingriffe in die Landesverfassungen. Es gab bundesweit große Demonstrationen unter anderem gegen diese Partei, die als Gefährdung der Demokratie angesehen wird. Auch deshalb wird ein Verbotsverfahren gegen die AfD gefordert. Viele lehnen das auch ab, weil ein Scheitern kontraproduktiv sein könnte. Wie sehen Sie das?

Staeck: Verbotsverfahren sind immer nur … ich würde sogar sagen die letzte Hoffnung. Ich halte nicht sehr viel davon.

Ein Verbot der NPD ist vor dem Bundesverfassungsgericht seinerzeit ja auch gescheitert…

Staeck: Wobei ich die AfD für gefährlicher halte. Weil sie auch Leute erreicht, die nicht extremistisch eingestellt sind. Ich komme ja selbst aus dem Osten, aus Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Und ich bin damals aus guten Gründen geflüchtet. Viele Ostdeutsche haben nicht diesen langen demokratischen Marsch mit vielen Auseinandersetzungen hinter sich wie die Westdeutschen. Trotz allem sehe ich unsere Demokratie als gefestigt an. Es gäbe nichts Törichteres, als würden wir jetzt alle anfangen, wieder zu zweifeln: Ist die Demokratie gefährdet? Je mehr man darüber redet, umso gefährdeter ist sie. Man kann manche Dinge wirklich herbeireden.

Der Kabarettist Hagen Rether hat kürzlich im Mannheimer Capitol eine Beobachtung formuliert: Es gebe eine gewisse Demokratie-Müdigkeit, weil alles so so kompliziert und träge sei. In den letzten Jahren werden viele Probleme ja auch nicht sachgerecht gelöst auf der politischen Ebene…

Staeck: Ja, Demokratie ist nicht einfach. Und wir haben zusätzlich eine komplizierte Regierungskoalition. Die Leute in der Ampel ziehen den Strick in verschiedene Richtungen. Die ruhigen goldenen Jahre, oder wie man sie nennen mag, sind aus verschiedenen Gründen vorbei. Corona ist nur eine von vielen Bewährungsproben, wenn auch eine große. Wir hatten uns auch daran gewöhnt, eine bequeme Demokratie zu haben. Die Leute sind heute nicht gut genug vorbereitet auf ihre Zumutungen – wie die Einschränkungen in der Pandemie.

Hat das Grundgesetz in dieser Zeit die Freiheitsrechte der Bürger ausreichend geschützt im ewigen Konflikt aller Rechtsstaaten zwischen Sicherheit und Freiheit? Wie ging es Ihnen als freiheitsliebender Geist und langjährigem Vertreter der hart gebeutelten Kulturszene als Präsident der Akademie der Künste mit den Einschränkungen während des Lockdowns?

Staeck: Gerade in dieser Zeit hat sich das Grundgesetz bewährt. Covid ist nun mal eine weltweite Krankheit, die bestimmte Einschränkungen notwendig macht. Gefährlich ist, wenn Leute daraus eine Ideologie machen. Die diese Einschränkungen für ganz andere Ziele benutzen.

Aber es gab lautstarken Widerstand nicht nur von Corona-Leugnern oder Extremisten

Staeck: Ich komme aus dem Kleinbürgertum. Ich kenne all diese Ängste. Auch die Verführbarkeit der Menschen. Deshalb schätze ich möglicherweise viele Dinge anders ein als der Normalbürger, der in nur in Friedenszeiten groß geworden ist. Ich behaupte, ich habe ein anderes Gefahrenbewusstsein für die Dinge, die gefährlich sein können. Aber in unserer Demokratie können sie ja auch alles probieren und bis zur juristischen Grenze fast alles ausreizen.

Was hat da eigentlich für ein Geist Einzug in unsere Gesellschaften gehalten, der – befeuert von einseitiger Bestärkung durch die Algorithmen der sozialen Medien – die eigene Meinung und Befindlichkeit absolut setzt? Auch gegen die große Mehrheit der Bevölkerung?

Staeck: Das liegt auch am Internet. Aber ich muss gestehen, dass ich das zwar einigermaßen verfolge, aber zu dem Thema nicht komplett diskussionsfähig bin.

Der Heidelberger Politikwissenschaftler Dolf Sternberger hat 1970 den Begriff Verfassungspatriotismus geprägt, der sich anders als völkisch geprägter Nationalismus auf demokratische Institutionen wie das Grundgesetz fokussiert. 1986 hat ihn der Philosoph Jürgen Habermas in der Tradition der „Willensnation“weitergedacht. Aber obwohl zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht in Umfragen immer noch sehr gute Beliebtheitswerte hat, wurde das Konzept nie zum Massenphänomen. Warum gibt es nicht mehr Verfassungspatrioten? Auf das Grundgesetz könnte man doch bedenkenlos stolz sein.

Staeck: Weil auch das Grundgesetz zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Und weil es funktioniert. Es sind zwar Kleinigkeiten novelliert worden, aber nichts wirklich Grundsätzliches. Für mich war Gustav Heinemann stets einer der wirklichen Verfassungspatrioten.

Der Politiker, der unter Adenauer Innenminister war und zurücktrat, 1957 in die SPD eintrat, Justizminister und 1969 dritter Bundespräsident wurde?

Staeck: Ja. Er war für mich eine Art Orientierungshelfer. Die braucht jeder Mensch, wenn er aufwächst. Heinemann zählte zu denen, die einem bewusst machten, warum man sich mit der Demokratie für die schwierigste Regierungsform entscheidet, womöglich auch die langweiligste. Das ist doch auch eine Entscheidung, die man ganz persönlich trifft. Dass man den anderen mit seiner Meinung aushält. Auch all den Blödsinn, so lange er nicht gefährlich wird. Ich bin überzeugt, dass die Menschen im Grunde friedliche Wesen sind. Auch wenn im Moment vieles gegen diese These spricht.

Finden Sie denn am Grundgesetz nach 75 Jahren etwas, das man konkret verbessern müsste? Der Föderalismus beispielsweise hat ja gerade in der Pandemie einige Prozesse sehr zäh gemacht, oder?

Staeck: Ja, ich bin kein allzu großer Freund des Föderalismus. Schon wegen der verschiedenen Schulsysteme. Ich merke aber auch, dass er manche Dinge abfedert. Damit sie nicht auf das Gesamtstaatliche überschwappen.

Als kritischer Satirekünstler haben Sie eine große Zahl von juristischen Konflikten austragen müssen – so gut wie alle erfolgreich. In puncto Kunst und Meinungsfreiheit ist das Grundgesetz doch nahezu perfekt, oder?

Staeck: Ja! Es ging in den Prozessen deshalb oft auch nur darum: Ist das Kunst oder nicht? Ich wollte aber nicht auf Kunst plädieren, sondern habe mich auf Absatz 1 von Artikel 5 des Grundgesetzes bezogen, die Meinungsfreiheit: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.“ Weil ich stets wollte, dass alle sagen können, was ich sage.

Jörg-Peter Klotz, Ressortleitung Stv. Kulturchef

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