Kolumne Oktober 2008
Endlich. Das Superwahljahr 2009 hat begonnen. Der mündige Bürger darf wieder seine Stimme abgeben und erheben, um seiner politischen Überzeugung Gewicht zu verleihen. Nach bestem Wissen und Gewissen, versteht sich. Dass gerade die Landtagswahl in Hessen den Auftakt zum diesjährigen Abstimmungsmarathon bildet, erinnert aber unweigerlich daran, wie nach bestem Wissen und Gewissen einiger weniger selbstverständliche demokratische Spielregeln und innerparteiliche Entscheidungsprozesse ausgehebelt worden sind.
Vom behaupteten Wortbruch der Frau Ypsilanti, aber auch genauso vom Verhalten der SPD-Abweichler profitiert am 18. Januar der wortbrucherfahrene Herr Koch. Das Prinzip Demokratie und Solidarität ist ebenso auf der Strecke geblieben wie die Glaubwürdigkeit der Volksvertreter und der Medien.
Man kann den Strategiewechsel von Frau Ypsilanti nach der Wahl im Frühjahr für falsch oder verwerflich halten. Dass sie ihn aber der Parteibasis und ihren Fraktionskollegen im Machtrausch aufgezwungen hätte, lässt sich nun wirklich nicht behaupten. Mehrere Monate warb sie für den Weg der SPD zurück zur Regierungsverantwortung und fand dafür in den eigenen Reihen schließlich die erforderliche Rückendeckung. Auch drei der späteren Verweigerer signalisierten der Landesvorsitzenden lange Zeit ihre Unterstützung, beteiligten sich sogar aktiv an der Ausarbeitung des Koalitionsvertrages. Bis sie urplötzlich das reine Gewissen für sich und die Medien entdeckten. Auf einmal wogen die Stimmen der klaren Mehrheiten nichts mehr, die Stimmen und Stimmungen der Minderheit alles. Liberale wie konservative Blätter stilisierten die „fantastischen Vier“ unisono zu Helden, die sich dem „Kollektivzwang“ mutig widersetzt und endlich eine Lanze für die Meinungsfreiheit gebrochen hätten. Die Minderheitsmeinung war auf einmal wichtiger als die Mehrheitsmeinung und niemand wunderte sich über die Verdrehung der Fakten und Begriffe.
In Wirklichkeit haben „Verantwortungsethiker“ wie Carmen Everts der Demokratie einen Bärendienst erwiesen, weil sie ihr jäh erwachtes Gewissen absolut gesetzt und damit das Votum der Mehrheit ignoriert haben. Sollte dieses Verhalten zur Regel werden, dann wird jede politische Entscheidung in einer repräsentativen Demokratie zu einem unkalkulierbaren Vabanquespiel und das Regieren zu einem riskanten Lotteriespiel. Demokratien und demokratische Parteien funktionieren nur dann, wenn das Mehrheitsprinzip akzeptiert wird. Der Mehrheit kündigten die vier „Aufrechten“ ihre Solidarität und eben nicht etwa nur die Gefolgschaft gegenüber der Parteiführung, wie der Berliner Politologe Herfried Münkler an dieser Stelle vor kurzem behauptete. Insofern war ihr Nein zum gemeinsam ausgehandelten Regierungskonstrukt auch ein Nein zum solidarischen Handeln innerhalb einer demokratisch verfassten Partei.
Selbstverständlich muss jeder Politiker eine abweichende Meinung auch öffentlich machen können. Aber bitte konstruktiv und nicht zerstörerisch wie im Falle der medial bis zur Peinlichkeit hofierten „Rebellen“. Es gehört nicht besonders viel Mut dazu, sich gegen die eigene Partei zu stellen, wenn man sich der veröffentlichten Meinung sicher sein kann. Und übrigens sollte man besonders in Zeiten wuchernder Wertedebatten wenigstens mit dem Gewissen verantwortlicher umgehen beziehungsweise, es bei politischen Entscheidungen dieser Art ganz aus dem Spiel lassen.