Kolumne 15. Oktober 2010
Stell Dir vor die Parteien und Parlamente wären von den Parteilosen und Protestlrn hinweggefegt worden. Das Prinzip der direkten Demokratie hätte das der repräsentativen unter sich begraben. Gruppeninteressen würden die Gemeininteressen dominieren und Systemkritiker nach ihrem eigenen, wohlfeilen System regieren. Das einzige Programm der Politikneulinge trüge die Stempel Protest und Populismus. Wer glaubt, dass sei eine verrückte Vision, der blicke ins Städtchen Anklam. 200 Kilometer nördlich von Berlin bewegt ein demokratischer Alleinherrscher schon seit Jahren nach seinen eigenen Regeln die Hebel die Macht.
Bürgermeister Michael Galander schimpft auf alle Politiker und verehrt Wladimir Putin. Zwei von drei Wählern gaben ihm kürzlich wieder ihre Stimme und haben die Politik in Anklam abgewählt. Dass gegen ihn wegen Subventionsbetrug, Fälschung von Wahlunterlagen und Verleumdung ermittelt wird, stört die Mehrheit der mündigen Bürger nicht. Schließlich lädt er sie im Wahlkampf auf Bootstouren und zum Bowlen ein oder verlost Einkaufsgutscheine vor dem Baumarkt eines seiner Unternehmerkumpels. Keine lästigen Diskussionen im Stadtparlament, sondern unbürokratische Entscheidungen im Hauruckverfahren, lautet sein unwiderstehliches Credo. So einfach und effizient funktioniert „Demokratur“, wie Galander seine demokratisch legitimierte Diktatur irrwitzig nennt. Demokratie sieht anders aus.
Es ist ebenso leicht wie gefährlich, Parteien und Politiker mit populistischen Parolen an den Pranger zu stellen und mit aller medialer Macht sein Veto einzulegen oder Plebiszite auf allen Ebenen und zu jeder Frage einzufordern. Wie viele und welche Menschen eine solche Volksherrschaft wirklich ausmachen, haben die Volksentscheide in Hamburg oder Bayern gezeigt. In beiden Fällen sind weniger als 40 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahlurne gegangen. Eine engagierte Minderheit hat über eine politikmüde Mehrheit gesiegt. Trotzdem behaupten viele professionellen Protestler im Namen des ganzen Volkes zu sprechen. Wie der Verein „Mehr Demokratie“, der bundesweit gerade mal 5500 Mitglieder zählt.
Plebiszite sind nicht das Allheilmittel der Demokratie, sondern oftmals Gift für politische Entscheidungen, die ethisch sensibel und fachlich hochkomplex sind. Kaum auszudenken, wenn die Deutschen nach der hochemotionalen Sarrazin-Debatte über die Rechte und Pflichten der islamischen Mitbürger abgestimmt hätten. „Lösungen, die einfach, fair und zukunftsorientiert sind“, wollen die Macher der Website „Bürgerprotest Online“. So „einfach“ wie die populistische Forderungen nach Steuersenkungen, Haushaltsüberschuss und weniger Arbeitslosen ist, so mühsam und schwierig ist ihre politische Umsetzung. Ohne Parteien und Parlamente, die Alternativen diskutieren, Interessen austarieren und Kompromisse finden, wäre das Chaos perfekt. Öffentlichkeitswirksame Volksentscheide suggerieren das simple „Ja“ oder „Nein“. Aber das gibt es nicht.
Es bedarf vermittelnder und vertrauenswürdiger Parteien, die den Bedürfnissen ihrer Wähler und der Sache gerecht werden. Es bedarf aber auch gut informierter, kritischer und aktiver Bürger, die den Parteipolitikern permanent auf die Finger schauen. Ihre Aufgaben können und dürfen sie Ihnen aber nicht abnehmen.