Kolumne Februar 2014
Die Begegnung liegt schon ein Jahr zurück. Ich fuhr mit der Berliner S-Bahn zum Alexanderplatz. Am Bahnhof Friedrichstraße stiegen ein Mann mit Frau und Kind ein. Als er mir im Gedränge den breiten Rücken zudrehte, las ich auf seinem T-Shirt „TODESSTRAFE FÜR KINDERSCHÄNDER“. Todesstrafe? Ist die in Deutschland nicht abgeschafft? Der Mitreisende machte nicht den Eindruck, als wolle er über seine Botschaft mit sich reden lassen. Hätte ich widersprechen sollen? Für eine Kurzintervention wäre allemal Zeit gewesen.
Jetzt denke ich oft an diese Szene. Nein, von Todesstrafe habe ich öffentlich bisher nichts gehört. Aber wer weiß schon, wohin es die Massen in Zeiten galoppierender Hysterie noch treibt? Von Tosdesurteil ist dagegen schon die Rede, wenn es um die bürgerliche Existenzvernichtung des ehemaligen Abgeordneten Sebastian Edathy geht.
Gelegentlich ist es hilfreich, sich mitten im Strom der Quelle zu erinnern. Der Bürger Edathy hat bei einem Netzanbieter Fotos von unbekleideten Jungen bestellt. Bis heute hat das niemand als strafbare Handlung eingestuft. Eine abschließende juristische Klärung hat nicht stattgefunden. Stattdessen wird über Grauzonen und Grenzbereiche schwadroniert. Der übelste Trick: Auch wenn die bestellte Ware keine Kinderpornografie ist, so liegt doch die Vermutung nahe, dass jemand, der „so was“ mag, noch viel schärfere Sachen hortet. Anders ausgedrückt, wir können zwar nicht beweisen, dass jemand dieses oder jenes getan hat. Aber es ist ihm zuzutrauen und dafür bestrafen wir ihn. Gesinnungsjustiz nennt man das. Ist erst einmal die „Es könnte doch sein“-Kette angestoßen, gibt es kein Entrinnen. Es ist dieses Klima des Generalverdachts, das unseren Alltag vergiftet.
Zwar wird hin und wieder an die Unschuldsvermutung erinnert. Oft aber nur, um sie im Nachsatz gleich wieder außer Kraft zu setzen. Frage: Gilt dieser Grundsatz eigentlich nur vor Gericht oder auch mit Blick auf die Medien, BILD, Spiegel, Focus etc.
Vor allem BILD mischt wieder kräftig mit. Ein Wiener „Tatort“ im Pädophilen-Milieu bot willkommenen Anlass für ein Interview. „KINDERPORNOGRAFIE. ‚Tatort‘-Kommissarin geht auf Edathy los. ER HÄLT DIESEN DRECK AM LEBEN“. Und weiter: „Die Legalitätsdiskussion mit ihren Spitzfindigkeiten macht mich wütend“. Tut mir Leid, Frau Kommissarin. Die für alle gleichermaßen gültige Legalität mit anerkannten Regeln und Gesetzen ist eines der Wesensmerkmale des Rechtstaats.
Kürzlich freute sich der Satiriker in mir beim Anblick eines gemalten kindlichen Nackedeis auf der Titelseite der Berliner BZ. Dazu die schicksalhafte Frage, ob derlei „detailgetreue Bilder nackter Kinder“ ins Rathaus Berlin-Lichtenberg gehören. Jetzt kippt es ins Absurde. Dachte ich. Nun geht es bald den alten Meistern an den Rahmen. Ingeborg Ruthe hat die Unsinnsdebatte am Beispiel Caravaggios „Amor als Sieger“ wunderbar ironisch belebt. Ich würde gern Rembrandts „Raub des Ganymed“ beisteuern: Der Mythos Ganymed als heulendes, urinierendes Kleinkind.
Auch in meinen Augen ist der Konsum von Kinderpornografie eine Straftat. Für das BKA sind Edathys Erwerbungen „strafrechtlich irrelevant“. Das sollte auch der SPD genügen. Erfährt er schon keine Solidarität, hat er doch Anspruch auf Fairness.
Den kuriosesten Beitrag zur Debatte lieferte AfD-Chef Prof. Dr.Lucke: „Im Bundestag interessiert sich niemand für Kinder, außer Edathy“. Dieser Biedermann kandidiert fürs Europa-Parlament. Ein Grund mehr, zur Wahl zu gehen.