Der Fall des inhaftierten Ukrainers Oleg Senzow erinnert an die übelsten Zeiten stalinistischer Schauprozesse. Wenn wir schweigen und zulassen, dass Menschen wie Senzow verschwinden, machen wir uns mitschuldig. Kolumne vom 30.7.2014
Das Schlimmste, was einem politischen Gefangenen widerfahren kann, ist vergessen zu werden. Dies droht gerade Oleg Senzow im Moskauer Lefortowo-Gefängnis, weil der Flugzeugabschuss und die fortwährenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Separatisten die Medien beherrschen. Der junge, bereits international bekannte ukrainische Filmregisseur und Autor war nach der Annexion der Krim nicht aus seiner Heimatstadt Simferopol geflohen. Als Maidan-Aktivist geriet er deshalb sehr schnell ins Fadenkreuz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. In der Nacht zum 11. Mai wurde er festgenommen, mit einer Plastiktüte fast erstickt und bedroht, man könne ihn auch vergewaltigen und töten.
Seit der Festnahme und der Entführung nach Moskau – die in den Augen der Okkupanten natürlich nur eine Verlegung ist – wird Senzow mit den absurdesten Beschuldigungen belastet. Er solle geplant haben, am 9. Mai, dem Tag des Sieges über Hitler-Deutschland, als Mitglied einer Terror-Gruppe des Rechten Sektors die „Ewige Flamme“ und das Lenin-Denkmal von Simferopol in die Luft zu sprengen. Die Untersuchungshaft wurde gerade bis zum 11. Oktober verlängert, damit die Ermittlungsorgane in bester KGB/NKWD-Tradition noch genügend Material erfinden können, um Senzow für die nächsten Jahre ins Lager oder ins Gefängnis zu bringen.
Plötzlich ist alles wieder gegenwärtig: die Denunziation, die Folter, die Konstruktion unglaublichster Verdächtigungen – am Ende der Schauprozess mit Demütigungen des Beschuldigten, von denen sich Bürger eines Rechtsstaates kaum eine Vorstellung machen können. Wer Karl Schlögels „Terror und Traum“ gelesen hat, die akribische Beschreibung der Stalinherrschaft und der Schauprozesse des Jahres 1937, der wird viele Parallelen entdecken.
Zum Glück gibt es rechtschaffene Anwälte und die spärlichen Reste einer unabhängigen Berichterstattung im Fernsehkanal „Doschd“, der seit einigen Monaten nur noch per Internet zu empfangen ist. Dort wurde Oleg Senzows Aussage vor Gericht dokumentiert: „Ich bin nicht Mitglied des ‚Rechten Sektors‘ und habe an keinen terroristischen Akten teilgenommen. Alle Anschuldigungen gegen mich sind aus politischen Gründen fabriziert worden … Ich bin und bleibe ukrainischer Staatsbürger. Ich bin kein Leibeigener, den man mit dem Land übergibt. Ich wurde am ersten Tag meiner Festnahme gefoltert, damit ich falsche Aussagen gegen die Maidanführer mache. Auch hier in Lefortowo wurde mir mit dem inszenierten Selbstmord als Sprung aus dem Fenster gedroht.“ Dieses mutige Statement sollte verbreitet werden, damit am Tage seiner Verurteilung niemand sagen kann, man habe es nicht gewusst, zu welch schreiendem Unrecht Putins Willkürjustiz in der Lage ist.
Wenn wir schweigen, wenn wir zulassen, dass Menschen wie Senzow verschwinden, machen wir uns mitschuldig. Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Andrzej Wajda, Pedro Almodóvar haben für die Freilassung ihres Kollegen protestiert. So wie die Sächsische Akademie der Künste vor wenigen Tagen wird auch die Berliner Akademie den russischen Botschafter auffordern, der Moskauer Führung zu verdeutlichen, dass die fortdauernde Inhaftierung Oleg Senzows dem Ansehen Russlands in der Welt nur noch mehr Schaden zufügt.
Die Kolumne erschien zeitgleich am 30.7.2014 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.