Marktbeherrschung statt Filmkultur, Steuervermeidung statt Kinoerlebnis: Streamingportale wie Netflix drohen eine ganze Sparte der Kunst zur Profitmaschine zu machen. Kolumne vom 27.12.2018
Einem alten Kinogänger wie mir muss man erst einmal erklären, was „Streaming“ heißt – und warum dieser Begriff dafür steht, dass auch für das Kino nichts mehr so bleibt, wie es mal war. Denn der deutliche Besucherschwund im zurückliegenden Jahr hat nicht nur mit Fußball und Wetter, sondern auch damit zu tun, dass Serien und Filme zu jeder beliebigen Zeit per Internet auf den Bildschirm kommen können.
So wird der Kinobesuch für immer mehr Leute von der Gewohnheit zur Ausnahme. Allein die Zahl der Netflix-Abonnenten stieg in Deutschland im laufenden Jahr um 20 Prozent. Das Unternehmen, einst als Videokassetten- und DVD-Versandhaus gegründet, wächst unaufhaltsam und wurde mindestens seit der Serie „House of Cards“ weltberühmt. Und ein Ausweis seiner Bedeutung dürfte auch sein, dass der deutsche Steuerzahlerbund schon mal kritisch nachfragte, warum das Bundeswirtschaftsministerium einem Unternehmen mit dem Börsenwert von 142 Milliarden Dollar Fördermittel in Millionenhöhe überwiesen hat.
Netflix verbreitet nicht nur, es produziert auch selbst, und zwar in solchen Ausmaßen, dass nicht nur die Stoffe, sondern auch die Schauspieler und Fachleute für die Filmgewerke knapp werden.
Mit diesen gewaltigen Investitionen wird der Film- und Fernsehmarkt kräftig unter Druck gesetzt. Immer mehr Kabelkunden kündigen in den USA ihre Anschlüsse und stellen sich auf TV aus dem Internet um. Die traditionellen Sender haben das Nachsehen, weil die attraktiven Programminhalte für sie knapp werden. Der Kampf um die Kunden wird härter.
Netflix hat inzwischen auch die Rechte für die Onlineverbreitung vieler Filme von Paramount und Metro-Goldwyn-Mayer gekauft, bevor Amazon Prime, Disney und nun auch Google und Facebook ihre Streamingoffensive so richtig gestartet haben.
Für Amazon mag das noch ein Nebengeschäft zur stärkeren Kundenbindung seiner Prime-Abonnenten sein, aber da es Netflix komplett über seine IT-Infrastruktur, den Webservice und die Speicher laufen lässt, bleibt Amazon Konkurrent und Gewinner zugleich.
Dieser Tage las ich im „Tagesspiegel“, dass der scheidende Präsident des Verbands der europäischen Filmförderer dem Branchenkonflikt zwischen Kino und Streamingdiensten sehr entspannt entgegensieht, da man sich über die hohen Investitionen nur freuen könne. Diese Freude kann ich nicht teilen, weil wir derzeit nichts anderes erleben als die Amazonisierung eines weiteren Stücks unseres Alltags.
Es geht um Marktkämpfe, Marktbereinigung, Gewinnmaximierung durch die volle Ausnutzung von Steuervermeidungsmodellen. Es geht nicht um die Erhaltung einer Filmkultur im zugegeben alten Sinne, um den Schutz des Kinos als sozialen Gemeinschaftsraum in unseren Städten.
Netflix weigert sich hartnäckig, eine Abgabe an die deutsche Filmförderung zu zahlen, und dürfte allein deshalb nicht in den Genuss deutscher Wirtschaftsförderung kommen. Vor allem aber schadet Netflix der Kinolandschaft, weil es sich nicht an die Regel hält, den Lichtspielhäusern genügend Zeit für die Verwertung des Films auf der Leinwand zu geben.
Anfang des Monats lehnten es die meisten deutschen Kinobetreiber ab, den in Venedig ausgezeichneten Film „Roma“ zu zeigen, weil Netflix als Produzent nur wenige Tage für die Aufführung freigab, um sich mit dieser beschränkten Kinoaufführung die Chancen für den „Oscar“-Wettbewerb zu sichern.
Mal sehen, ob die Berlinale standhaft bleibt – oder auch zur Werbeplattform für Netflix wird.
Die Kolumne erschien am 27.12.2018 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.