Es ist erstaunlich, wie viele Zeitungen die SPD vor dem Aus sehen. Dabei hat die Partei 430.000 Mitglieder und regiert im Bund und in Ländern mit. Kolumne vom 12.12.2019.
Bahnfahren bildet. Das stelle ich jedes Mal aufs Neue fest. Vor allem auf langen Fahrten lese ich auch Zeitungen, die nicht gerade zu meiner täglichen Lektüre gehören. So geschehen mit der Tageszeitung „Die Welt“, die ich – aus heute mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen – während meiner Heidelberger Studienzeit sogar abonniert hatte. Jedenfalls jähes Erschrecken, als ich am 2. Dezember auf Seite 2 den Kommentar des ehemaligen Herausgebers las, ein Companero des Großrevolutionärs Joschka Fischer aus Frankfurter Tagen.
Überschrieben war die Horrormeldung: „Die SPD gibt es nicht mehr“. Hatte ich, der ruhelose homo politicus, da irgendetwas verpasst? Hatten sich die Sozialdemokraten nach über 150 Jahren so leise aus dem Staube gemacht, dass es nicht einmal den immerhin noch rund 430.000 Mitgliedern aufgefallen war? Oder war das Ganze nur Wunschdenken eines Autors am Ende eines langen Marsches durch die Institutionen?
Seine ultimative Abrechnung mit der real existierenden Sozialdemokratie war jedenfalls so gnadenlos, dass die Tür zum sprichwörtlichen Prinzip Hoffnung nicht einen Spalt offen blieb. Denn „sie hat sich selber aufgegeben“. Verzückt, in Sprachspiele verliebt, wird Juso-Chef Kevin als „altsozialistischer Resteverwerter und jungsozialistischer Schwarmgeist“ gleich mit abgeräumt.
Ausgebrannt sei die SPD, heißt es im „Spiegel“
Auf solche Charakteristika muss man erst einmal kommen. Aber ältere Herren drehen ja gern vergleichbare Pirouetten im Schwurbelreigen. Ein hervorgehobener Satz im Text hat mich besonders belustigt: „Die Partei ist bei der Kultur des Kindergeburtstages angekommen.“ Ich habe keinen Zweifel, dass sich der zürnende schreibende Opa in diesem Milieu gut auskennt.
Etwas beruhigt war ich, als „Der Spiegel“ mit einer verglimmenden, noch roten SPD-Kerze aufwartete. Schlachtruf: „Ausgebrannt. Wer braucht die SPD noch?“ Immerhin wird so der „alten Tante“ noch ein Fragezeichen zugestanden und die Weißkittel des „Sturmgeschützes der Demokratie“ sezieren das Innenleben der siechen Partei über Seiten mit der Akribie der Allwissenden.
Irdischer Jammer auch in der „Zeit“
Bei der Gelegenheit bekenne ich voll Scham, vor Jahrzehnten für eben dieses Journal in Heidelberg meine erste Demonstration mitorganisiert zu haben, als ein gewisser Franz-Josef Strauß als Verteidigungsminister 1962 dem Blatt wegen der Titelgeschichte „Bedingt abwehrbereit“ nicht nur verbal an den Kragen und damit an die Existenz gehen wollte.
Deshalb ruhte meine Hoffnung auf „Die Zeit“, dem liberalen Gewissen der intellektuellen Nation deutscher Prägung. Doch auch hier herrscht irdischer Jammer. Auf der Titelseite groß ins Bild gesetzt der Urvater aller Willy-Wähler, versunken in einem Gestus, der auf Verzweiflung schließen lassen könnte, wenn man den begleitenden Aufschrei liest: „Geht’s noch?!“Ich erlaube mir, mich dieser Frage ohne Einschränkung anzuschließen. Denn der kleiner gedruckte Begleittext: „Was blüht der SPD, was droht dem Land – und ist das alles noch normal? Politik Seite 2-4.“ lässt Schlimmes ahnen. Auf der gleichen Seite der Wochenzeitung hieb der Chefredakteur himself in die Tastatur.
Wohl in Anlehnung an des Dichters Wilhelm Hauffs „Kaltes Herz“ überschreibt er seine Philippika mit „Herz aus Stein“ und raunt zur Wahl von Saskia und Norbert, es sei „der vorletzte Akt einer Tragödie“ und besorgnistrunken fragt Giovanni, „erspart sich die SPD den letzten?“. Nein, verehrte Kolleginnen und Kollegen des schreibenden Sektors. So war das mit der Vierten Gewalt nicht gemeint.
Die Kolumne erschien am 12.12.2019 in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.