Kolumne vom 24.06.2021
Die Stasi-Unterlagenbehörde ist nach 30 Jahren ihres Daseins Geschichte und wurde, dem historischen Datum angemessen, am 17. Juni in das Bundesarchiv überführt. Die schon mehr als 7 Millionen Mal gestellte Frage „Wo ist meine Akte?“ muß wohl künftig nach Koblenz adressiert werden. Aber materiell bleibt das Archiv in Berlin und an den regionalen Standorten, 1300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen nicht „rüber machen“.
Einer der historischen Standorte, an dem MfS-Schergen ihrem Beruf nachgingen, war das ehemalige Potsdamer Stasi-Untersuchungsgefängnis. Dort hatte ich wenige Monate, nachdem die letzten Häftlinge im Dezember 1989 entlassen wurden, eine meiner ungewöhnlichsten Ausstellungen. Am 1. Mai strömten hunderte, vielleicht tausende Potsdamer durch das alte Gefängnisgebäude, wo in den Fluren des Zellentrakts meine Plakate hingen. Der Bürgerrechtler und Mitbegründer des Neuen Forums Rudolf Tschäpe hatte mich eingeladen, hier meine Arbeiten zu zeigen, mit denen ich mich seit den 70ger Jahren in der Bundesrepublik mit Umweltverschmutzung, Waffenhandel, Profiteuren an globalen Konflikten, Lobbyismus und institutioneller Gewalt auseinandergesetzt hatte.
Die „Gedenkstätte Lindenstraße“ und ihre Fördergemeinschaft erinnert nun mit drei Jahrzehnten Abstand an diese künstlerische Besetzung eines früheren Ortes der Repression und hat die alten Sachen noch einmal aus dem Fundus des Potsdammuseums geholt. Coronabedingt mit einem Jahr Verspätung kann man die Ausstellung „Politische Plakate Revisited“ seit einigen Tagen wieder besichtigen. Wegen der Pandemie gab es im Mai nur eine virtuelle Eröffnung – dafür aber eine Internetpräsentation, die in beeindruckender Weise und Qualität Objekte und historische Hintergründe darstellt und in Beziehung setzt. In einem der Texte steht, die Plakate griffen wie in einem „fernen Spiegel“ noch immer und schon wieder aktuelle Themen auf. Damals 1990 hätten sie aus der Perspektive von DDR-Bürgern wie Zerrbilder gewirkt und Warnschildern gleich auf die Verhältnisse in der eigenen sozialistischen Gesellschaft verwiesen. Mein Plakat- und Postkartenmotiv mit der Wanze und der Aufforderung „Ruf doch mal an!“ war in beiden Staaten gleichermaßen populär und erfuhr dann im NSA-Skandal sein eigenes „Revisited“.
In der Ausstellungsvitrine sind einige wenige Blätter aus meiner umfangreichen Observationsakte ausgelegt. Überwachungsfotos und das „Auftragsersuchen – Beobachtung“ von 1978 mögen heute kurios bis lächerlich wirken – damals waren sie ernst zu nehmende Instrumente der Repression. Da wird der aus Bitterfeld nach Berlin mitreisende Bruder Rolf genannt, mit dem „eine Reihe von Treffs mit bislang unbekannten Personen“ geplant sind. Man weiß nur, dass die Adresse von Stefan Heym ein Ziel ist. Bis zur Stadtgrenze Berlin hatte die Bezirksverwaltung Halle auf der Autobahn die Augen offen zu halten. Das war noch gar nichts gegen die konzertierte bezirksübergreifende Stasi-Aktion einschließlich taktischem Stromausfall zu einer Ausstellungseröffnung in Rostock, einige Jahre später. Als dann nach der Wende auch in den Medien über die Identität eines „IM Klaus“ gemutmaßt wurde, fühlte ich mich gemeinsam mit dem ebenfalls verdächtigten Freund und Schriftstellerkollegen Klaus Schlesinger veranlaßt, Einsicht in die damals noch sogenannten „Gauck-Akten“ zu beantragen.
„Das Vergangene ist nicht tot; ist nicht einmal vergangen,“ dieses von Christa Wolf einem ihrer Bücher vorangestellte Zitat gilt auch für Akten und Gedenkorte.
Die Kolumne erschien am 24.06.2021 in der Frankfurter Rundschau.