Nicht ganz marginale Verluste

In der Ukraine stehen Tolstoi, Puschkin und Achmatowa auf dem Index. Das ist Teil der Entrussifizierung. Kolumne vom 09.03.2023

„Desastres de la Guerra“ hat Goya seine 82 Grafiken genannt, mit denen er vor zwei Jahrhunderten die Schrecken des Krieges beschrieb. Den Gräueltaten, die napoleonische Soldaten als Besatzer an der spanischen Bevölkerung begangen hatten, folgte jahrelang ein ebenso gnadenloses Wüten der Überfallenen.
Goyas Blätter des Grauens haben sich eingeprägt und werden nun seit einem Jahr mit den Bildern unserer Zeit immer wieder wachgerufen, wenn wir die Opfer von russischen Raketenangriffen sehen, die Leichen auf den Straßen von Butscha oder das Gemetzel in den Stellungskriegen zwischen den Verteidigern der Ukraine und den Soldaten des russischen Aggressors, die trotz größter Verluste zu immer neuen Angriffswellen angetrieben werden.

Klaus Staeck, Bücherwurm, Plakat, 1978

Es ist kaum auszuhalten, sich diesem „Schrecken des Krieges“ nicht mehr entziehen zu können, weil er in allen Medien omnipräsent ist. Keine „Friedensdemo“, so berührend oder – je nach Standpunkt – so naiv sie erscheint, kann etwas daran ändern, dass der Aggressor brutal und mit verlogener Propaganda auftritt und dass ein überfallener souveräner Staat zum Äußersten entschlossen ist, geraubte Gebiete zurückzuholen. So viele Menschenleben es auch kosten mag.
Mit dem Überfall, der mit der Annexion der Krim begann, hat sich ein tiefer Graben im Verhältnis zwischen Ukrainern und den Völkerschaften Russlands aufgetan. Wenn irgendwann dieser Krieg endet, bleiben Hass und Misstrauen.

Kürzlich in den „Tagesthemen“ eine Fernsehreportage aus Kiew: Vor allem ältere Menschen tragen Pakete und Bündel in eine Buchhandlung, weil sie sich von russischer Literatur befreien wollen. Hinter dem Laden werden diese Bündel auf einen Lkw geworfen, der das „Altpapier“ zu einer Sammelstelle fahren wird. Der Ertrag soll der Finanzierung von Kriegsgerät dienen.
In den kurzen Sequenzen sind einige Namen von Autoren zu lesen: Lew Tolstoi und Iwan Bunin. Der eine hat in „Krieg und Frieden“ – wie Goya zuvor – die „Desastres de la Guerra“ gegen die napoleonischen Eroberer beschrieben. Der andere konnte noch drei Jahre nach der Oktoberrevolution von Odessa mit einem Schiff nach Frankreich fliehen – in ein Exil ohne Wiederkehr. „Denn jenes Leben, das wir alle damals lebten, wird niemals wiederkommen … mit Russland ist es zu Ende“, war seine traurige Bilanz. Als „Staatenloser“ erhielt Bunin 1933 den Literatur-Nobelpreis, seine Bücher erscheinen neu herausgegeben mit Erfolg in einem Züricher Verlag. In der Ukraine aber ist Iwan Bunin ein Verbannter.
Auf dem Index der Lehrpläne von Schulen stehen neben Tolstoi die Namen von Alexander Puschkin, Anton Tschechow oder Anna Achmatowa. Auch Bibliotheken entsorgen tonnenweise russische Literatur, weil laut Anordnung des Ministeriums für Kultur und Informationspolitik Propagandaliteratur aus ukrainischen Bibliotheken zu entfernen sei.

Wobei der Begriff, was als Propaganda gilt, offenbar sehr weit gefasst wird. Allein im vorigen Jahr haben die Bibliotheken 19 Millionen Bücher aus ihren Beständen vernichtet. Das rigorose Vorgehen – so erklären es ukrainische Autorinnen und Autoren – sei auch eine Antwort auf eine jahrzehntelange Russifizierung und auf die Diskriminierung der ukrainischen Sprache.
An Michail Bulgakows Kiewer Wohnhaus soll die Gedenktafel entfernt worden sein. Im Zuge der Entrussifizierung werde bereits gefordert, die Skulptur des Autors von „Der Meister und Margarita“ irgendwann zu beseitigen. Auch das gehört in die Liste der Kriegsverluste, wenngleich marginal zu den noch ungezählten Kriegstoten.

Die Kolumne erschien am 09.03.2023 in der Frankfurter Rundschau.

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