Bei Graffiti sind die Grenzen zwischen Vandalismus und künstlerischer Entfaltung fließend, hier scheiden sich die Geister – heute wie in den 80ern. Kolumne vom 29.04.2021
Rund 20.000 Euro kostet die Reinigung einer zugesprayten Berliner S-Bahn. Für die Neulackierung eines ICE-Triebwagens, der als „fame“-Trophäe der Sprayer unterwegs ist, muss die Bahn noch 10.000 drauflegen. Jeder stehende Zug ist in Gefahr, von „Tags“ und „Pieces“, wie die Szene Kritzeleien und Bilder nennt, verziert zu werden. Die Grenzen zwischen purem Vandalismus und aggressiv-kreativer Selbstverwirklichung sind fließend. Was mich als Mensch und Bahnfahrer aufregt, zwingt mich als Künstler, der gemeinsam mit Joseph Beuys den Züricher Sprayer Harald Naegeli verteidigt hat, zu einem differenzierten Blick auf das Phänomen.
Vor einigen Tagen sah man die Bilder eines mit meterhohen Schriftzügen besprayten Gebäudes in Weimar, das zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Die gelbe Fassade des Wittumspalais wurde ebenso verunstaltet wie die Geschäftshäuser der Fußgängerzone. Eine Nacht zuvor traf es mit roter Farbe das Goethe-Haus, im November wurden die Mauern des Schillerhauses mit grünen Schiftzügen beschmiert. Die Verwalter der Stadt sind nicht zu beneiden, denn die Kassen sind klamm, seit Monaten fehlen wie überall im Land die Touristen. Und die Klassikstiftung muss so schnell wie möglich die Schäden an ihren Gebäuden beseitigen, um den Tätern zu zeigen: wir wehren uns gegen euch, Vandalismus hat keine Chance!
Was ist anders geworden, seit Naegeli seine Sensenmänner, Spinnenmenschen und Fischfrauen, meist auf Betonmauern einer nicht gerade menschenfreundlichen Architektur sprühte und dafür von einem Schweizer Gericht zu neun Monaten Haft und einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde?
Zur Baseler Kunstmesse 1984 gab es wenig Interesse, sich mit Naegeli zu befassen, der nicht weit entfernt im Gefängnis Winterthur saß. Den meisten Besuchern ging es eigentlich um Kunst als Geldanlage für eine geschlossene Gesellschaft der Renditejäger. Der Kunstbetrieb von Machern, Vermittlern, Kitikern und Käufern war sich – von wenigen versprengten Ausnahmen abgesehen – einig, dass ihre konzertierte Aktion öffentlicher und privater Kunstsicherheit von einem Harald Naegeli nicht gestört werden sollte. Der Sprayer hat dagegen im wahrsten Sinne des Wortes Zeichen gesetzt. Noch unerkannt schrieb er einige Jahre zuvor: „Ich realisiere unmittelbar. Lege bloß, decke auf, setze das Messer an…“ Seine Strich-Gestalten auf meist öde, kalte Wände gesprayt, waren Ausdruck einer freien, vagabundierenden Phantasie, Kritik und unbequemer Kommentar zugleich. Ich stehe immer noch dazu, was ich damals über den Freund Naegeli schrieb, dass wir ihm eine neue Dimension von Kunst, eine Erweiterung des traditionellen Kunstbegriffs verdanken, dass Kunst nicht notwendigerweise zur bloßen Deklaration, zum Amüsement verkommen muss. Womit er freilich auch die Internationale der Saubermänner auf den Plan gerufen hatte. Diese waren kaum in der Lage, zwischen kläglicher Nachahmung und einer neuen Dimension von Kunst im öffentlichen Raum zu unterscheiden.
Nun sind einige Jahre vergangen, selbst im Stadtrat und in der Verwaltung Zürichs sitzen inzwischen Repräsentanten, die stolz auf ihren einst geschmähten Künstler und Mitbürger sind. Sie haben ihm, um dessen Gesundheit es nicht mehr gut steht, einen Kunstpreis verliehen, den er einer Naturschutzorganisation spenden will. Nur der Kunsthaus-Geschäftsführer Müller bleibt bei seinem Prinzip: Sprayen auf Fassaden ist Sachbeschädigung. So wurde noch im vorigen Jahr ein zarter Strich-Flamingo Naegelis geopfert. Ordnung muss sein.
Die Kolumne erschien am 29.04.2021 in der Frankfurter Rundschau (unter dem Titel „Ist das Kunst oder muss das weg“)