Kolumne vom 07.04.2022
Wenige Tage nach der Annexion der Krim hatte ich Ende März 2014 zwei ukrainische Autoren und Aktivisten der Bürgerbewegung in die Akademie der Künste nach Berlin eingeladen, um von ihnen aus erster Hand zu erfahren, wie sie nach den erfolgreichen Protesten auf dem Maidan ihre Revolution gegen alle Widerstände sichern werden.
Zur Solidaritätsveranstaltung mit der Ukraine auf dem Berliner Bebel-Platz, jetzt Anfang März nach dem Kriegsbeginn, war Jurko Prochasko aus seiner Heimatstadt zugeschaltet. Im wehrpflichtigen Alter konnte und wollte er nicht mehr ausreisen. Mit deutlichen Worten nannte er die Ideologie des Aggressors, der eine eigenständige ukrainische Nation negiert, „Grossraschismus“, eine Kombination aus Grossrussentum und Faschismus. Der Putinismus habe sich zur totalitären Diktatur entwickelt. Im Kern setze er sich zusammen aus: chauvinistischem Imperialismus, völkischem Mystizismus, messianischem Größenwahn, religiös getöntem Revanchismus, apokalyptischem und militaristischem menschen- und lebensverachtendem Macht- und Führerkult, tiefster Verachtung für Recht und Freiheit und Selbstbestimmung.
Noch in Jahrzehnten wird man sich auf Prochaskos präzise Charakteristik der aggressivien Moskauer Politik berufen können, wenn Putin längst seinen Platz an der Kremlmauer eingenommen hat.
Warum haben wir trotz aller Warnzeichen in diesen acht Jahren die aufziehende Gefahr einer drohenden Vernichtung der Ukraine nicht sehen können? Oder hatten wir – und ich meine auch mich selbst – noch nicht begriffen, dass sich unsere Koordinaten für die Friedenspolitik mit Russland zu verschieben begannen? Dabei sollten wir gewarnt gewesen sein, nach der brutalen Zerstörung Grosnys, der militärischen Aktion in Georgien, der Krim-Annexion und der Verletzung ukrainischer Souveränität durch die Unterstützung von Separatisten. All das hat offenbar nie einen Schatten geworfen auf die florierenden wirtschaftlichen Kontakte und vor allem auf die einseitige Energieabhängigkeit, die sich heute als Fehlentscheidung erwiesen hat.
So fallen jetzt selbstgerechte Moderatoren über Politiker her, um ihnen mit oft maßlosem Moralanspruch den sofortigen Totalausstieg aus der Gasversorgung oder die Hoheit über den ukrainischen Luftraum abzuverlangen. Über den unausweichlichen Industrie-Kollaps oder eine finale Eskalation des Krieges bis zum Atomschlag reden wir dann später. Den Medienmachern werden die Themen schon nicht ausgehen.
Die Kolumne erscheint am 07.04.2022 in der Frankfurter Rundschau.