Müssen Bücher von Wolfgang Koeppen auf den Index? War er ein Rassist? Keineswegs. Literatur ist im Kontext ihrer Entstehungszeit zu beurteilen. Kolumne vom 04.05.2023
Als ich 1956 „rübermachte“, als Abiturient aus einer DDR-Oberschule in Bitterfeld, mit dem Zug bis Hötensleben nördlich des Harzes, dann zu Fuß über die noch mäßig bewachte Grenze und in Schöningen den nächsten Bahnhof erreichte, da hatte ich eine grundlegende Lebensentscheidung getroffen. Ich hatte den einen deutschen Staat gegen den anderen eingetauscht und blieb dennoch dieser Herkunft mit allen Erinnerungen bis heute verbunden.
So wie sich mir auch die frühen bundesdeutschen Erlebnisse dauerhaft eingeprägt haben. Unvergesslich das erste Buch, das ich nach der Ankunft las. Es war „Das Treibhaus“ von Wolfgang Koeppen. Mit „Tauben im Gras“ und „Der Tod in Rom“, erschienen in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre, beschreiben diese Bücher atemlos und mit brutal realistischer Sprache alles, was vom Wirtschaftswunder der jungen Bundesrepublik verdeckt und übertüncht wurde: die Überreste des Antisemitismus, einen latenten Alltagsrassismus in der Konfrontation mit schwarzen GIs, die für den amerikanischen Way of Life verachtet wie bewundert wurden. Die Lust auf Leben in Konfrontation zur alten Schuld der Nazi-Generation.
Es war, so sehe ich es heute noch, der passende Lesestoff für die Ankunft im westdeutschen Alltag. Desillusionierend und zugleich den Blick schärfend für alles, was einen noch erwarten sollte. Das Jura-Studium auch bei einigen Dozenten, die sich als akkurate Demokraten ausgaben, deren Vergangenheit aber kein Geheimnis war, gehörte ebenso dazu wie mein Ausbruch aus vorbestimmter Rechtsanwaltskarriere in eine unbestimmte Berufslaufbahn als Künstler und Satiriker.
Seit Wochen lese ich nun immer wieder, wie der 1995 verstorbene Autor Wolfgang Koeppen postum verteidigt werden muss. Er sei ein Rassist, der sich rassistischer Sprache bedient habe und dessen Denken ebenso klassifiziert werden müsse. Weil seine Bücher ein „Angriff auf die Menschenwürde“ seien, müssten Abiturientinnen und Abiturienten vor dieser Lektüre geschützt werden.
Eine Unterschriftenliste im Internet weist mehr als elftausend Namen aus, die „Tauben im Gras“ lieber auf dem Index sehen möchten als auf der Literaturliste für Gymnasien in Baden-Württemberg. Die Kultusministerin steht noch auf der Seite einer zehnköpfigen Lehrerkommission, die das Buch als Pflichtlesestoff für zukünftige Abiprüfungen ausgewählt hat. Aber sie ist unter Druck, weil die Kritikerinnen und Kritiker offenbar den Zeitgeist auf ihrer Seite wähnen.
Die Angst, beim Lesen könnten negative Gefühle geweckt werden, ist so übermächtig, dass die Reputation des Autors keine Rolle mehr spielt. Dass die Sprache der Figuren eines Romans nicht identisch ist mit dem Denken des Autors, der auch die Abgründe einer Gesellschaft mit seinen Mitteln beschreiben können muss, gehört offenbar nicht mehr zu den gültigen Vereinbarungen im Umgang mit Kunst und Literatur.
Wenn sich Verlage inzwischen zu korrigierenden Eingriffen in historische Texte veranlasst fühlen, vor dem Druck sogenannte „Sensitivity-Lektorate“ einsetzen, um Texte auf mögliche Verletzungsgefahr der Leser durch negative Emotionen zu untersuchen, dann läuft offenbar etwas grundlegend falsch.
Wir amüsieren uns über eine tumbe Schulverwaltung in Florida, die eine Lehrerin mit der Empörung der Eltern der Schule verweist, weil sie Michelangelos „David“ unverhüllt, also „in pornografischer Absicht“, den Schülerinnen und Schülern zeigt, und sehen den Balken im eigenen Auge nicht. Es ist ein Armutszeugnis, den Lehrenden wie den Lernenden nicht mehr zuzutrauen, Literatur in ihrer Entstehungszeit und im historischen Kontext zu erschließen.
Die Kolumne erschien am 04.05.2023 in der Frankfurter Rundschau.