Wenn Filialen von Post und Banken schließen, ist das auch schlecht für die Demokratie. Kolumne vom 01.06.2023
„Daseinsvorsorge“ – ein Wort, das nicht in dieses Jahrhundert zu passen scheint. Ernst Forsthoff, ein konservativer Staatsrechtler, hat den Begriff in den dreißiger Jahren in die Welt gesetzt, um die soziale Verantwortung der Gesellschaft für das Erbringen von bestimmten Leistungen für die Allgemeinheit zu beschreiben. Die „Daseinsvorsorge“ hat wie ihr Autor, dem ich noch als Jura-Sudent in Heidelberg begegnete, alle sprachlichen Entnazifizierungsverfahren überlebt, und ist im bundesdeutschen Verwaltungsrecht bis heute prinzipiell unumstritten. Es geht nicht in erster Linie um Ertrag und Gewinn, wenn Bürger daseinswichtige Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Was auch bedeutet, dass der Staat für einen Verlustausgleich einstehen kann, wenn die Privatwirtschaft keine Lust auf Risiko hat oder gleich die Segel streicht, wenn sich Engagement – zum Beispiel beim Busverkehr in ländlichen Regionen – nicht auszahlt. Dann fährt eben kein Bus mehr, obwohl die Gemeinde mit freiwilligen Arbeitsstunden ihrer Bewohner eine Bushaltestelle mit Wendeschleife in den Ort baute und der Fahrplan seit Jahren nichts mehr mitzuteilen hat.
An die gute alte Daseinsvorsorge mußte ich auch denken, als ich kürzlich das Foto eines frustrierten Post-Nutzers sah, der für sein für ein ganzes Berliner Stadtviertel gebautes und seit einigen Jahren stillgelegtes Postamt vermißt. Die dürftige Ersatz-Annahmestelle teilt den stets in einer Schlange wartenden Post-Kundinnen und Kunden auf handgeschriebenen Tafeln an der Tür mit, dass sie in einer Reihe zu stehen haben, nur einzeln eintreten und keinesfalls mit 50-€-Scheinen zahlen dürfen. Eine Regenvariante ist für die Wartenden nicht vorgesehen, denn im Laden stapeln sich die Pakete der einschlägigen Versanddienste zur Abholung. Da hat der Kunde das Nachsehen.
Die Bundesnetzagentur hat neben vielen anderen Aufgaben auch darüber zu wachen, dass die Bevölkerung ausreichend mit den Dienstleistungen der Post versorgt wird – was selbst im E-Mail-Zeitalter gilt. Zum Jahresbeginn stellte sie fest, dass 140 Pflichtstandorte unbesetzt sind und sich Beschwerden über die Post im Verlauf eines Jahres mehr als verdoppelt haben. Kritiker merken an, dass die Post wegen einem maßlosen Renditedruck an Personal und Filialen spart. So wird die Forderung illusorisch, wonach jede Gemeinde mit mehr als 2000 Einwohnern mindestens eine Postfiliale haben muss und in Wohngebieten die nächste Poststation nicht weiter als zwei Kilometer entfernt sein sollte. Für die Erfüllung einer Verordnungspflicht spielen übrigens Paketshops und Briefmarkenverkäufer als Ausreden keine Rolle.
Aufregung wegen Vernachlässigung der Daseinsvorsorge gab es gerade in Brandenburg, weil das flächendeckende Filialnetz der Sparkasse zu reißen droht, wenn 30 von 141 Filialen aufgegeben werden. Nicht einmal Geldautomaten sind noch sicher – weder vor Sprengungen noch vor ihrer Abschaffung. Offenbar kann ein Sparkassengesetz ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bürger in ohnehin benachteiligten Infrastruktur-Gebieten nach Belieben, sprich: nach Renditesteigerung, ausgelegt werden. Wer zu alt, zu wenig mobil, unvertraut (oder zu mißtrauisch) mit dem Onlinebanking ist, der hat künftig in Brandenburger Regionen das Nachsehen. Das ist keine bürgernahe Politik, ja, es ist auch für das Funktionieren der Demokratie bedenklich. Denn Daseinsvorsorge ist ein Gesellschaftsvertrag. Wer den kündigt, muss sich über Verdruss und Zweifel am Funktionieren unserer demokratischen Verabredungen nicht wundern.
Die Kolumne erschien am 01.06.2023 in der Frankfurter Rundschau.