Kolumne vom 25.07.2024
Vor mir liegen zwei meiner Plakate aus den 80er Jahren. Das eine heißt „Thema Sicherheit“: ein Atompilz untertitelt mit der Aussage, „Der nächste Weltkrieg ist mit Sicherheit der letzte“. Das andere: „NEIN zur Raketenrepublik Deutschland“. Das „I“ im NEIN hat die Gestalt einer Bombe, die jederzeit auf die Silhouette einer Stadt herabstürzen könnte.
Die Plakate entstanden als Reaktion auf den langwierig debattierten und am Ende durchgesetzten NATO-Doppelbeschluß über die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenwaffen, der die gleichzeitigen Verhandlungen über die Begrenzung von Atomraketen durch die Supermächte vorsah. Nachdem die Genfer Verhandlungen gescheitert waren, wurde in einigen NATO-Staaten durch das Votum der Bürger die geplante Stationierung abgelehnt, während der deutsche Bundestag der Aufstellung neuer Atomwaffen zustimmte. Erst zu Zeiten Gorbatschows kam es mit dem INF-Vertrag zu einem weitgehenden Schritt, das gegenseitige Zerstörungspotential zu reduzieren.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine hat die Weltlage fundamental in Richtung einer möglichen Konfrontation mit dem Westen verändert.
Doch nicht nur ich frage mich, ob die am 11. Juli von der Bundesregierung gebilligte und vom Kanzler in wenigen Sätzen vorgetragene Entscheidung, bis 2026 amerikanische Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, nur ein militärischer Routineakt sein soll. Welche weitreichenden sicherheitspolitischen Konsequenzen ergeben sich daraus, und werden diese überhaupt von einer ernsthaften strategischen Debatte in unserem Land begleitet? Das monierten kürzlich nicht nur Experten des Hamburger Instituts für Friedensforschung in einer Veröffentlichung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Auch der langjährige militärpolitische Berater bei UNO und NATO, Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser, fragt sich in einem Beitrag für die TAZ, warum die Stationierung nicht im NATO-Rahmen vorgenommen wurde – „wie dies im Sinne der Risiko- und Lastenverteilung etwa bei der nuklearen Teilhabe der Fall ist“. Die künftige nuklearstrategische Stabilität zwischen den Atom-Supermächten hätte künftig mit Deutschland als Hauptstationierungsplatz ihr am meisten verwundbares Ziel. Ganser und andere Kritiker verweisen darauf, dass wir seit vielen Jahren über keinen nennenswerten Zivilschutz verfügen und durch Raketenangriffe hoch verwundbar wären.
Es ist gut, dass jetzt der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich in die Debatte eingegriffen hat, denn die „Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich,“ nicht zuletzt, weil die Raketen nur eine sehr kurze Vorwarnzeit hätten. „Wir dürfen nicht militärisch in diesen Krieg verwickelt werden. Es geht darum, besonnen über die Lieferung von Rüstungsgütern zu entscheiden – und nicht Politikern zu folgen, die plötzlich jede Schraube in einem Panzer zu kennen meinen“, sagte er in einem Interview für die Funke-Medien. Mützenich bleibt auch dabei, dass die immer noch in deutschen Depots gelagerten US-Atomsprengköpfe abgezogen werden müßten.
In seinen klaren Worten kann ich keine Blauäugigkeit gegenüber dem russischen Drohpotential erkennen. Mützenichs Expertise steht für mich außer Zweifel. Und die Mehrzahl der Deutschen dürften seinem Wunsch folgen, dass die Bundesregierung ihre Entscheidung in Angebote zur Rüstungskontrolle einbetten möge – so wie einst in der Nachrüstungsdebatte. Nach dem Ukraine-Krieg gelte es, eine Rüstungsspirale zu verhindern, aus der es dann irgendwann kein Entrinnen mehr geben würde.
Die Kolumne erschien am 25.07.2024 in der Frankfurter Rundschau.
Nachfolgend eine Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises, die am 29.07.2023 in den Medien (u.a. FAZ, TAZ, DLF) zitiert wurde:
Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises
27. Juli 2024
Wir, die Mitglieder des Erhard-Eppler-Kreises, sind tief besorgt über die Schlagseite, mit der gegenwärtig über Pro und Contra einer Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland und Wege zu einem Ende des Blutvergießens in der Ukraine debattiert wird.
Der Großteil der medial verbreiteten Einschätzungen geht davon aus, dass ein Waffenstillstand in der Ukraine und der Schutz Europas vor Putins imperialistischem Streben nur durch Abschreckung und gegenwärtig ohne damit einhergehende Aufforderung zum Eintritt in Abrüstungsverhandlungen gelingen kann.
Als Demokraten respektieren wir diese Position. Zu einem demokratischen Ringen um den richtigen Weg gehört aber auch, dass auch unsere und von vielen geteilte gänzlich andere Einschätzung respektiert wird.
Wie Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, warnen wir eindringlich davor, die Gefahren einer Stationierung von Langstreckensystemen mitten in Europa zu unterschätzen.
Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob unser dicht besiedeltes Land zum Ziel eines atomaren Erstschlags werden könnte – eine Frage, die auch die glühendsten Befürworter dieser Art von Abschreckung nicht definitiv ausschließen können. Dessen ungeachtet wird Kritik – in der Sache ebenso wie in Bezug auf das Zustandekommen der Entscheidung und ihre Kommunikation – entweder totgeschwiegen oder in einer Weise herabgesetzt, die mit dem Stil einer demokratischen Debatte nicht in Einklang steht.
In der veröffentlichten Meinung wird der Eindruck erweckt, dass nur diejenigen „erwachsen“ und Experten seien, die allein auf Abschreckung mit ausschließlich in Deutschland stationierten Lenkwaffen großer Reichweite setzen. Zugleich wird das Plädoyer, „abseits des Schlachtfelds Wege zu einem Ende der Kämpfe“ zu suchen (Mützenich) als Aufruf von Träumern diskreditiert, die weiße Flagge zu hissen und dafür die Knechtschaft Putins in Kauf zu nehmen. Das ist ein inakzeptabler Umgang miteinander.
Wer die Suche nach Wegen abseits des Schlachtfeldes ausschließt, muss erklären, wie er einen Krieg beenden will, ohne das Schlachtfeld auszuweiten. Der Glaube, Raketenbasen der NATO blieben davon unberührt, wird jedenfalls von Beobachtern in Frage gestellt, die mit Fug und Recht den Titel „Experte“ für sich in Anspruch nehmen können.
Was uns befremdet ist das Schweigen der Führungen von SPD und SPD-Bundestagsfraktion zu der von Rolf Mützenich angestoßenen Debatte. Wir erleben tagtäglich nicht nur an der sozialdemokratischen Parteibasis, wie vielen Rolf Mützenich aus der Seele spricht.
Wir erwarten auch von der Führungsebene der Partei und der Fraktion, Farbe zu bekennen und den Fraktionsvorsitzenden gegenüber abqualifizierenden Vorwürfen zu verteidigen. Und wir würden uns von der Parteispitze gegenüber den Medien mehr sichtbaren Einsatz dafür wünschen, dass kontroverse Positionen in der Stationierungsfrage ohne Vorverurteilung einer Seite fair gegenübergestellt werden. Auch Schweigen ist eine Meinungsäußerung.
Unterzeichner
- Gernot Erler
- Ernst Ulrich von Weizsäcker
- Norbert Walter-Borjans
- Axel Fersen
- Cay Gabbe
- Albrecht Bregenzer
- Herbert Sahlmann
Über den Erhard-Eppler-Kreis „Frieden 2.0“
Der Erhard-Eppler-Kreis „Frieden 2.0“ ist ein politischer Arbeitskreis, den Erhard Eppler noch kurz vor seinem Tod ins Leben gerufen hat. Er entstand aus Sorge über die Gefahren, die durch die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA im Jahr 2019 entstanden sind. Der Kreis führt das Erbe von Erhard Eppler fort, organisiert Veranstaltungen, arbeitet mit Institutionen zusammen und fördert den Dialog mit politischen Entscheidungsträgern mit dem Ziel, die Mechanismen des Friedens verständlich zu machen.
Erhard Eppler (1926-2019) war ein deutscher SPD-Politiker, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1968-1974), Bundestagsabgeordneter (1961-1976), Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg (1976-1982), und eine bedeutende Persönlichkeit der Friedensbewegung der 1980er Jahre, zudem engagiert im Umfeld der evangelischen Kirche.
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Interview mit Norbert Walter-Borjans am 30.07.2024 im Deutschlandfunk