Kolumne 12. Januar 2011
Vor sechs Jahren feierte die Europäische Union den Beitritt der Ungarn zum „Familienkreis“ überschwänglich mit der „Ode an die Freude“. Nun herrscht bei den anderen Familienmitgliedern Katzenjammer. Die „Verwandten“ aus dem Osten haben ihre Wohnung im europäischen Haus so radikal umgebaut, dass sie die Grundfesten des Gebäudes erschüttern.
Erst beschnitt Ungarns neuer Premier die Kompetenzen des Verfassungsgerichts, nun schränkt er per Mediengesetz kurzerhand die Presse- und Meinungsfreiheit dramatisch ein. Solch massive Eingriffe in die Bausubstanz gibt der „Mietvertrag“ nicht her. Nach zahnloser Kritik seitens der Nachbarn und Orbáns schamloser Verteidigung seiner Maßnahmen bei Antritt der Ratspräsidentschaft ist es höchste Zeit, den Ernstfall auszurufen.
Europas Politiker müssen jetzt beweisen, wie sie es mit der Verteidigung der „Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit“ nach Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta halten. Dulden sie nach juristischer Prüfung die systematische Medienkontrolle und willkürliche Bestrafung nicht „ausgewogener Berichterstattung“ durch Orbàn und seine treuesten Parteigänger, dann sind die viel beschworenen Werte nur noch hohle Phrasen. Wer anderen Ländern Sonderrechte dieser Art gewährt, setzt nicht nur die Identität Europas, sondern die Demokratie als Staatsform aufs Spiel. Einer Mitgliedschaft Weißrusslands stünde dann auch nicht mehr viel im Wege. Wodurch unterscheiden sich denn Demokratien von Diktaturen, wenn nicht durch Meinungspluralismus und Rechtsstaatlichkeit.
Bekanntlich stehen auch die starken Männer Italiens und Frankreichs mit regierungskritischen Medien auf Kriegsfuss und lassen kräftig ihre Muskeln spielen. Bevor die ganze Gemeinschaft von diesem Virus angesteckt wird und maßlose Regelungen à la Orbán rundum hoffähig werden, müssen alle EU-Staaten glaubhaft machen, dass sie nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern vor allem demokratische Grundwerte verbindet. Doch davon ist derzeit nicht viel zu hören. Vor allem die Niederlande und Dänemark halten sich mit Kritik an ihren östlichen Nachbarn zurück. Nicht zuletzt aus Furcht, den rechtskonservativen und populistischen Kräfte im eigenen Lande noch mehr unzufriedene Wähler in die Arme zu treiben.
Schließlich brüsten sich Orbán wie auch Lukaschenko damit, von mehr als Zweidrittel der Wähler „demokratisch“ legitimiert zu sein. Das eindeutige Votum zeichnet die ungarischen Regierungsmitglieder aber längst nicht als „lupenreine“ Demokraten geschweige denn als würdige Mitglieder einer europäischen Wertegemeinschaft aus. Um dies unter Beweis zu stellen, bedarf es seitens der EU deutlich massiveren Drucks. Ohne ihn wird Orbán kaum „zitternde Knie“ bekommen. Seine Verbalattacken auf die kritischen Medien und Regierungschefs in der letzten Woche zeugen weder von Furcht noch von Einsicht.
Dabei besitzt die EU seit den Erfahrungen mit Österreichs rechtskonservativer FPÖ einen juristischen Hebel. Sie muss ihn nur umlegen. Niemand wird ernsthaft bezweifeln wollen, dass Ungarns Medienpolitik nach Artikel 7 des EU-Vertrags eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der gemeinsamen Werte darstellt und geahndet werden muss. Und zwar mit dem Entzug ihres Stimmrechts, was faktisch die Aussetzung der Mitgliedschaft bedeutet. Das Wohnrecht im europäischen Haus kann man den Ungarn nicht mehr entziehen, aber auf die Einhaltung der Hausordnung muss die Gemeinschaft bestehen.