Kolumne April 2011
Er gilt als Beschützer der Reisenden und des Verkehrs: Hermes, der Götterbote aus der antiken Mythologie. Ihre allerneueste „Mission Hermes 2011“ hätte die europäischen Grenzschützer von FRONTEX vielleicht besser nach Artemis, der griechischen Göttin der Jagd, benennen sollen. Bedenkt man, welchen „Schutz“ ihre Patrouillen afrikanischen Flüchtlingen auf ihrem Weg nach Europa bieten.
Ich erinnere mich noch gut an die 27 gekenterten Afrikaner, die vor vier Jahren ein Thunfischtrawler aus dem Mittelmeer gefischt und zwei Wochen lang im Schlepptau hatte, bevor sich italienische Marinesoldaten ihrer erbarmten und sie nach Lampedusa brachten. Nach Angaben von NGOs sind in den letzten 15 Jahren etwa 16.000 Menschen bei ihrer Flucht verdurstet oder ertrunken. Die Europäische Kommission schätzt sogar bis zu viertausend Tote pro Jahr. Wo waren da die 280 Götterboten? Vermutlich damit beschäftigt, andere Flüchtlinge abzudrängen statt aufzunehmen.
Wenn FRONTEX jemanden schützt, dann nicht die Wanderer aus dem unsicheren Afrika, sondern die Sesshaften im sicheren Europa. Indem sie die Grenzen zu allen anderen Kontinenten „hermetisch“ abriegeln, werden sie ihrem Missionstitel auf makabre Weise doch noch gerecht. Ihre Auftraggeber aus der EU spotten mit der Vergabe des Mandats zur verschärften Flüchtlingsabwehr ihren eigenen Werten Hohn. Lobte die Kanzlerin gestern noch den Freiheitsdrang der Demonstranten in Tunis und Kairo, beklagt sie heute den von den nordafrikanischen Revolutionen entfesselten Flüchtlingsstrom. Soforthilfen in Form von Zelten, Matratzen und Lebensmitteln für die Zehntausenden Flüchtlinge an der lybisch-tunesischen Grenze ja, die Verteilung der bisher rund 7.000 auf Lampedusa gestrandeten Tunesier auf die Mitgliedsstaaten lieber nein.
Ein Gebot der Menschlichkeit wäre es, die von Europa mitverschuldeten Fluchtgründe langfristig zu beseitigen und die Asylsuchenden kurzfristig in ganz Europa aufzunehmen. Hier könnten die Europäer endlich wahre Humanität beweisen. Wer hochsubventionierte Nahrungsmittel auf den schwarzen Kontinent exportiert und vor afrikanischen Küsten räuberischen Fischfang betreibt, darf sich nicht wundern, wenn in manchen Staaten bis zu 70 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind und ihr Glück in Europa suchen. Üble Diktatoren wie Gaddafi fürstlich dafür zu bezahlen, diese Menschen auf afrikanischem Boden festzuhalten und einzukerkern, zeugt nicht gerade von Menschlichkeit.
Statt zukünftig Millionen in hochempfindliche Wärmebildkameras, reichweitenstarke Radargeräte und wendige Aufklärungshubschrauber zu investieren, sollte die EU die arabischen Freiheitsbewegungen vor allem ökonomisch begleiten und statt gemeinsamer Abwehrmaßnahmen gemeinsame Aufnahmeverfahren entwickeln. Wenn Brüssel die sich entwickelnden Demokratien wirtschaftlich stabilisiert, nehmen auf lange Sicht nicht nur die Flüchtlingsströme ab, sondern auch die ramponierte Glaubwürdigkeit der europäischen „Wertegemeinschaft“ wieder zu. Auf ihrem heutigen Sondergipfel könnten Europas Staats- und Regierungschefs die Weichen dafür stellen, statt von Demokratie zu säuseln, während es in Wahrheit nur um unsere warme Stube, volle Tanks und den erbarmungslosen Kampf gegen Flüchtlinge geht. Aber vielleicht hofft der eine oder andere darauf, dass die libyschen Revolutionäre doch noch von dem „Irren“ zusammengebombt werden.