Was für ein Jahr!

Kolumne vom 05.11.2009
2009 hat große Chancen als Jahr der nicht enden wollenden Gedenktage in die Geschichte einzugehen. 60 Jahre Grundgesetz, 60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft, 250 Jahre Schiller, 100 Jahre Heinz Erhardt usw.

Doch dem ultimativen Feierhöhepunkt schreiten wir Seit an Seit erst noch entgegen: 20 Jahre Mauerfall, wenn sich der antifaschistische Schutzwall in den Freudentränen der „Wahnsinn“-Rufer wieder und wieder via Mattscheibe im Nichts auflösen wird. Begleitet von Schalmeienklängen und Blockflötenkonzerten werden wir dieses Bauwerk noch einmal freudetrunken zu Grabe tragen, die immer noch existierende Mauer in vielen Köpfen für einen Tag vergessend.

Die Bürgerrechtler als die eigentlichen Träger und schließlich Opfer der friedlichen Revolution werden kaum noch Erwähnung finden. In den ganzen Jubelfeiern zu kurz kommen sicher auch Brandts Ostpolitik, der Grundlagenvertrag und die Schlussakte von Helsinki. Denn sie waren die Wegbereiter für die spätere Veränderung, die durch die DDR-Bevölkerung zu einem unblutigen Abschluss kam. In Anbetracht der herrschenden politischen Verhältnisse wird auch das Wüten der TREUHAND nicht weiter zur Sprache kommen.

Dafür wird es anschwellende Einheitsreden im Übermaß geben mit dem Grundton: Das ganze Volk hat sich stets nichts sehnlicher als die Vereinigung herbeigewünscht. Pardon, hat es nicht. Jedenfalls haben das viele, die solches heute behaupten, in den Jahren der Teilung keineswegs gewollt. Ich habe da so meine eigenen Erfahrungen gemacht. 1956 aus der DDR geflüchtet, brauchte ich einige Zeit, bis mir die große Lüge der Adenauer-Ära bewusst wurde: ständig die nationale Einheit lauthals beschwören, in der Praxis aber alles dafür tun, dass sie in immer weitere Ferne rückt. Während die Regierungspolitik ganz nach Westen ausgerichtet war, war es wohlfeil, die Verbundenheit mit den lieben Brüdern und Schwestern im Osten zu beschwören, für die man gelegentlich sogar brennende Kerzen ins Fenster stellte, nicht zu vergessen: „Dein Päckchen nach drüben“.

Zornig über die Vereinigungsphrasen probte ich 1963 zusammen mit befreundeten Studenten den Ernstfall. Um der offiziell bejammerten menschlichen Entfremdung zwischen Ost und West entgegenzuwirken, organisierten wir einen Austausch zwischen den Universitäten Heidelberg und Leipzig. Und am 17. Juni schwärmten wir aus, um all die Festredner beim gesamtdeutschen Wort zu nehmen, boten ihnen am Ende ihrer Reden gar die Schirmherrschaft an. Nein, nein, so sei das alles nicht gemeint, wurden wir allerorts belehrt. Wir hätten da in unserem jugendlich begrenzten Blickwinkel einiges gründlich missverstanden. Denn schließlich sei ja jede Form von Kontaktaufnahme auch eine Art Kollaboration mit dem Feind.

So traten wir eben ohne Patenschirm unsere Abenteuerreise nach Leipzig an. Nicht ohne den Verfassungsschutz auf den Plan zu rufen. Mit unseren Beteuerungen, wir täten doch nur das, was alle Politiker – die christlichen am inbrünstigsten – stets forderten, machten wir uns eher verdächtig. Denn so naiv könnten wir doch gar nicht sein, um nicht zu wissen, wie all die offiziellen Erklärungen in Wahrheit zu deuten seien.

Es gibt also genug Fakten, mit denen wir die allzu lauten Jubelchöre konfrontieren sollten. Das alles ändert aber nichts an meiner ungetrübten Freude am verschwundenen Monstrum Mauer. Eine Freude, die mich jedenfalls gegenüber den Hardlinern unter den DDR-Nostalgikern immer ratloser werden lässt.

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