Kolumne 11. April 2013
Wann hat man schon einmal das Glück, in einer Veranstaltung gewesen zu sein, über die anschließend derart exzessiv gestritten wird? Ich hatte jetzt die Gelegenheit, so einen Medientsunami von der Quelle her zu begleiten.
Die Rede ist von „Klartext mit Peer Steinbrück“ am Mittwoch, den 3. April, in der mit 600 Leuten überfüllten Kleinen Arena des Berliner Tempodroms. Den um die dreißig Fragestellern stand der Kandidat gute zwei Stunden souverän, humorvoll und kenntnisreich Rede und Antwort. Dem Publikum gefiel diese Form des Gesprächsangebots.
Die erste Pressereaktion fand ich bei Welt Online mit der Überschrift „Steinbrück schließt eine Koalition mit der FDP aus“. Der Bericht enthielt zu der später hochgeputschten Frage der Körperertüchtigung keine Silbe. Donnerstag stieg dann BILD mit Kommentar und Kampfruf „RÜCKSICHT AUF ISLAM. Steinbrück für getrennten Sportunterricht von Mädchen und Jungen“ in die Eisen, samt einer verkürzten Darstellung des Vorganges, garniert mit dem Einspruch eines FDP-Politikers. Selbst die von mir bisher geschätzte Ombudsfrau Barbara John war sich als Stichwortgeberin nicht zu schade.
Nun, nach der scharfen Attacke des Leitmediums, ging die Hatz erst richtig los. Steinbrück „erneut in der Kritik“ hieß es in den Nachrichten des Deutschlandfunks. Selbst der „Tagesschau“ war plötzlich das Turnstundenkomplott eine Meldung wert. Anlass für eine weitere Anti-Steinbrück-Welle all der Anonymussy von „Katzenpapa“ bis „Koloptikos“ auf tagesschau.de. Auch Welt Online rüstete jetzt nach mit der neuen Überschrift „Steinbrück plädiert für getrennten Sportunterricht“, nicht ohne zu jubilieren: „Steinbrück verliert immer mehr an Boden“.
Nach der Devise des Klatschreporters in Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“: „Nachschieben, nachschieben“, mussten neue Player gefunden werden, um das zum Skandal aufgeblasene Thema bis in die Wochenendausgaben zu retten. So attestierte ein Genosse Steinbrück „eine sehr unglückliche Äußerung“. Von nun war von „innerparteilichem Gegenwind“ die Rede. Lange Texte in den Samstagsausgaben waren gesichert.
Die Dynamik dieser Kampagne hat selbst mich, den erprobten Wahlkämpfer, überrascht und erschreckt. Was um Himmels willen hatte der Kandidat am Mittwochabend auf die Schülerfrage so Furchterregendes geantwortet? „Wenn Schulen es einrichten können, dann sollen sie es machen. Ich würde da Rücksicht nehmen auf religiöse Überzeugungen. Aber da denkt vielleicht jeder anders“, habe ich noch im Ohr. Das entspricht exakt einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1993 und ist sowohl in einigen Bundesländern als auch in vielen Schulen gängige Praxis. Wo ist das Problem?
Vergessen wir die Campagneros von BILD mit ihren kleinen und großen Schweinereien als Geschäftsprinzip. Was mich zornig macht, sind all die Erfüllungsgehilfen und Wasserträger, die den Verlockungen dieses Kampfblattes kritiklos folgen. Doch Zorn hin, Zorn her. Bis zum Wahltag werden wir in Schmusebildern von der Kanzlerin und weichgespülter Hofberichterstattung ertrinken, gleichzeitig werden die Kampagnen gegen die SPD und Steinbrück noch an Schärfe und Perfidie zunehmen.
Was also tun? Den Sozialdemokraten bleibt wohl nur der Versuch, ihre Wähler gegen die immer neuen Erregungsspiralen zu immunisieren. So schlecht stehen ihre Chancen gar nicht, wie suggeriert wird. Schließlich haben sie zuletzt Landtagswahl um Landtagswahl und eine OB-Wahl nach der anderen gewonnen. Das zählt.