Kolumne November 2013
„Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“ Einer jener Sprüche, der auch den Ungläubigen locker über die Lippen geht. Dabei habe ich besonders als Jurist immer wieder festgestellt, dass es vor und hinter den Schranken des Gerichts eher profan zugeht, von göttlichen Eingebungen kaum eine Spur. Dennoch: Der Rechtsstaat ist das stabile Gerüst der Demokratie, Maßstab und zugleich Garantie für den Anspruch auf staatliche Gerechtigkeit. Darüber hinaus verspricht der juristische Instanzenweg die Überprüfbarkeit einmal gefällter Urteile.
Eine dieser höchsten Instanzen im leidlich vereinigten Europa ist der Europäische Gerichtshof. Appellationsinstanz, wenn der nationale Rechtsweg ausgeschöpft ist. Nicht nur als notorischer Bahnfahrer beschäftigt mich deshalb ein Urteil, nachdem sich ein österreichisches Gericht in Sachen Staatsbahnen hilfesuchend an den EuGH gewandt hatte.
Besondere Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr der Richterspruch hierzulande, weil er auch für die Deutsche Bahn gilt. Entschieden wurde, dass jeglicher Schienenverkehr für alle Verspätungen ab einer bestimmten Verzögerung prozentual entschädigungspflichtig ist. Kurz: Die Bahn ist für jede Verspätung verantwortlich. Das ist auf den ersten Blick äußerst verbraucherfreundlich und kommt dem Pauschalzorn entgegen, der bei vielen Bahnreisenden ad hoc abrufbar ist. Zum Thema „Verzögerungen im Bahnverkehr“ können vor allem Vielfahrer ein langes Lied singen. Ich kenne fast alle Varianten von Durchsagen, die auf eine verspätete Ankunft einstimmen sollen. Da ich rein schienenverkehrsmäßig viel unterwegs bin, habe ich mir angewöhnt, mich jedes Mal zu freuen, wenn ich pünktlich ankomme, was sogar sehr oft geschieht. Als Bahnkunde sollte ich mich ja über das EuGH-Urteil zusätzlich freuen. Dennoch empört mich die Begründung des Richterspruchs. Die höhere Gewalt mag besonders auslegungsbedürftig sein und zur missbräuchlichen Indienstnahme einladen. Eine generelle Berufung darauf höchstrichterlich auszuschließen, ist aber menschlicher Hybris geschuldet, kommt einer ungeheuren Anmaßung gleich. Bisher war die Anerkennung von höherer Gewalt das Eingeständnis, dass nicht jedes Naturereignis durch menschliches Handeln beherrschbar ist. Es ist die Sollbruchstelle unseres Vollkommenheitswahns. Was die Bahn betrifft, waren das Orkanstürme, Eisregen, Überschwemmungen, Metalldiebstahl aber auch der Suizid durch die Lokomotive. Es ist reiner Zynismus, der Bahn zu empfehlen, sie möge gegen all diese Störungen entsprechende Vorkehrungen treffen.
Dass jetzt der Bahnvorstand den zuständigen EU-Verkehrskommissar auffordert klarzustellen, dass die Bahnen im Falle höherer Gewalt nicht verantwortlich gemacht werden dürfen, ist deshalb folgerichtig. Allerdings greift mir seine Begründung zu kurz, wenn er sich hauptsächlich auf die Bevorzugung der Konkurrenten Flugzeug, Bus und Schiff beruft, für die jene neue Regelung nicht gilt. Nein, das EuGH-Urteil ist schon deshalb falsch, weil es künftig jede Berufung auf Fälle höherer Gewalt ausschließt.
Dass derartige Allmachtsphantasien nicht nur höchste Richter umtreiben, beweist ein Fall aus dem Bundeskanzleramt. Hat doch auf dem Höhepunkt allgemeiner NSA-Empörung Minister Pofalla die „Affäre“ per ordre de Mutti einfach für beendet erklärt. Inzwischen hat jedoch Kanzlerin Merkels engster Zuarbeiter seinen politischen Dienst selbst für „beendet erklärt“. Dafür sei ihm gedankt.