Kolumne März 2015
Sie sind inzwischen fast alle über 90 Jahre alt, die Täter. Die Täter? Wer jemals in Auschwitz-Birkenau oder Treblinka war, in Oranienburg, Mittelbau-Dora oder Buchenwald, diesen mehr oder weniger industriell betriebenen staatlichen Massenmord-Anstalten, dem fällt es schwer, die Frage unbefangen zu beantworten, ob man den alten Männern noch den Prozess machen soll nach all den Jahrzehnten, die von der Justiz gebraucht wurden, um ihrer habhaft zu werden.
Andererseits können sich die Greise doch freuen, dass sie so lange unbehelligt ihre Rente genießen konnten. Roland Freissler, dem Präsidenten des Volksgerichtshofes war das nicht vergönnt. Er wurde gegen Kriegsende Opfer eines Fliegerangriffs der Alliierten. Immerhin profitierte seine Witwe von der ewigen Schlussstrich-Mentalität, als die bayrischen Behörden den furchtbaren Juristen anlässlich der Berechnung ihrer Pensionsansprüche postum beförderten.
Schon seit Jahren kündigen die Medien ein um das andere Mal die „letzten Prozesse“ an. So steht seit Februar ein 93-jähriger SS-Wachmann wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170 000 Fällen im KZ Auschwitz vor Gericht. Hätten die Kriterien von heute früher gegolten, hätte er sich möglicherweise schon eher verantworten müssen, wenn Politik und Gesellschaft es gewollt hätten. Aber weder Politik noch die Bevölkerung wollten es. Schon gar nicht, nachdem Konrad Adenauer 1953 Hans Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, zum Kanzleramtschef berufen und damit den Weg freigemacht hatte für die allgemeine Amnesie.
Diese neue Sicht auf das wohl dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit verdanken wir ausgerechnet einem vermutlichen Intensivtäter: dem Ukrainer John Demjanjuk. In seinem Prozess – wer erinnert sich nicht noch an seine theatralischen Auftritte vor Gericht im mobilen Krankenbett – wurde festgeschrieben, dass Beihilfe zum Mord nicht verjährt. Jedenfalls nicht für jemanden wie ihn, der Teil des Vernichtungslagers Sobibor war.
Es ist legitim, in einem demokratischen Rechtsstaat zu fragen, ob nicht in Anbetracht des hohen Alters der Angeklagten Gnade vor Recht ergehen sollte. Zumal im Fall des 91-jährigen Demjanjuk zuvor mehrere seiner unmittelbar Vorgesetzten freigesprochen oder zu Bagatellstrafen verurteilt wurden. Aber Alter hin, Alter her, in Anbetracht der hier verhandelten schweren Verbrechen kann der Staat gar nicht auf seinen Strafverfolgungsanspruch verzichten. In den konkreten Fällen schon deshalb nicht, damit sich auch künftig niemand darauf berufen kann, dass er in einer großen Mordmaschine nur das sprichwörtliche „kleine Rädchen“ gewesen sei. Schon deshalb nicht, weil große Maschinen nun einmal aus den vielen „kleinen Rädchen“ bestehen.
In Anbetracht der nun wohl wirklich letzten Kriegsverbrecher-Prozesse siebzig Jahre nach Kriegsende bekommt die intellektuelle Debatte um den durch die „Schwarzen Hefte“ manifest gewordenen Antisemitismus des hochgeschätzten deutschen Philosophen Martin Heidegger etwas Gespenstisches. Geht es doch schließlich um Fragen intellektueller Beihilfe zum Massenmord und um die Verstrickung so gut wie aller Wissenschaften in die Barbarei der Nazi-Diktatur. Wir sollten die gegenwärtige Auseinandersetzung aufmerksam verfolgen. Sagt sie doch einiges über den geistigen Zustandes der Republik aus, auch wenn sie im Schlagschatten der Vergangenheit geführt wird.