IM GESPRÄCH MIT DER ERSTEN KUNSTSZENE DER BRD
KLAUS STAECK
Heidelberg, 01. April 2016
Franziska Leuthäußer: Ich habe gelesen, man wollte Sie in der DDR zu einer Maurerlehre überreden. Angeblich war das auch ein Grund, dass Sie 1956 in die Bundesrepublik übergesiedelt sind.
Klaus Staeck: Nein, ich bin bis zum Abitur in der DDR zur Schule gegangen. Mit allen Mühen, die sich ergaben, wenn man nicht stromlinienförmig mitschwimmen wollte. Ich habe früh gelernt, dass man sich entscheiden muss, ob man den opportunistischen Weg gehen möchte, den angepassten, oder doch im entscheidenden Augenblick widerspricht, wenn man mit dem, was die anderen von einem erwarten, nicht einverstanden ist.
Dann wurde ich gefragt: „Welche Städte haben Sie schon gesehen?“ Ich antwortete leichtsinnig: „Ich war schon einmal in Paris und Brüssel.“ Das war ja noch vor der Mauer. Damals konnte man, wenn man im Westen einen Ersatzpass bekam, Dreitagesfahrten über ein Reisebüro machen und das habe ich natürlich gemacht. Davon erzählte man aber eigentlich nicht. Als Drittes wurden mir Stellwerkhäuschen vorgelegt. Das eine war erkennbar aus der DDR, das andere aus dem Westen. Ich fand natürlich das aus dem Westen besser. Ich habe also genau das gesagt, was man, wenn man glaubte noch eine Chance zu haben, nicht hätte sagen dürfen. Aber für mich war es ein Akt der Befreiung und ich wusste: Ab jetzt ist hier Schicht. Ab jetzt hast du in der DDR keine Chance mehr. Als ich zurück in der Schule war, sagte der Rektor zu mir – man wurde immerhin schon gesiezt: „Leider sind Sie in Weimar abgelehnt worden. Möglicherweise sind wir etwas spät dran, aber ich werde mich dafür einsetzen, dass Sie dennoch eine Maurerlehre machen können.“ Ich zeigte ihm meine Hände, die nicht besonders groß sind: „Ich schätze das Maurerhandwerk, aber aus mir wird im Zweifel nie ein guter Maurer.“ Ich hatte einen Freund, der zum Studium ebenfalls nicht zugelassen worden war, und gemeinsam haben wir dann beschlossen: Wir hauen ab, wir gehen nach „drüben“, wie man damals sagte. Das war dann relativ einfach. Ich habe noch schnell meinen Führerschein gemacht, weil ich mir dachte, dass der im Westen sicher sehr teuer sei, und dann sind wir in den Westen gegangen, zuerst nach Düsseldorf.
Wo haben Sie die Grenze überquert?
Gar nicht. Man stieg einfach in den Zug und wenn man Pech hatte, wurde man noch einmal rausgewunken. Mindestens zwei Drittel meiner Abiturklasse sind auf diesem Weg in den Westen gegangen. Ich hatte Glück: Wir stiegen ein und fuhren bis Düsseldorf durch. Dort lebte mein Vater, das war mein Bezugspunkt. Und dann gab es die erste Überraschung. Wir hatten gehört, dass man als DDR-Flüchtling, die wir ja waren, im Westen eine Art Stipendium erhielt, wenn man studieren wollte. Ich glaube 150 D-Mark im Monat. Wir gingen auf das Lastenausgleichs-Amt und da erlebten wir sozusagen die erste Enttäuschung im Westen: Der Beamte, bei dem man sein Anliegen vortragen musste, telefonierte immer mit seiner Freundin. Zwischendurch fragte er irgendetwas und telefonierte dann weiter. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen, es ging schließlich um meine Existenz. Bekommen wir jetzt ein bisschen Geld, damit wir studieren können, oder sind wir nur Spielmaterial für denjenigen, dem man zufällig ausgeliefert war? Ich habe mir dann überlegt: Entweder machst du das Spiel mit und passt dich an, wie im Osten, machst dich klein und wartest, bis er bereit ist dich anzuhören, oder du gehst jetzt. Also bin ich aufgestanden und habe die Tür hinter mir, wahrscheinlich sehr unsanft, zugeschlagen.
Wohnten Sie damals bei Ihrem Vater?
Ja, ich wohnte bei meinem Vater. Dann passierte etwas, das mir deutlich vor Augen führte, wie der Westen tickte. Ich war noch nicht zu Hause angekommen, da war bereits ein Bote mit einem Brief von diesem Beamten da gewesen, in dem stand: „Herr Staeck, es tut mir leid, leider ist unser Gespräch unterbrochen worden. Hier schicke ich Ihnen meine private Telefonnummer. Sie können jederzeit kommen, auch unangemeldet.“ Er hatte offenbar einen Schreck bekommen, weil jemand rebellierte und er selbst möglicherweise Probleme bekommen könnte. Das war nicht der pflegeleichte Herr Staeck, der das Spiel, wie es offenbar die meisten taten, mitspielte und sich lieber ruhig verhielt.
Es war also ein Machtspiel?
Ja, zwischen uns entstand ein Machtspiel. Und als ich das nächste Mal hinging, hat er mir problemlos sofort alles genehmigt. Im Gespräch fragte er noch: „Was wollt ihr denn alle hier?“ Das ist für einen Mann, der geflüchtet war, keine schöne Begrüßung. Ich hätte auch in der DDR studieren können, das hätte meine Mutter bezahlen können. Im Westen war ich jedoch darauf angewiesen, um dieses Stipendium zu bitten. Weil ich dann doch Architektur studieren wollte, habe ich ein Dreivierteljahr hier in Heidelberg auf dem Bau gearbeitet und das sogenannte Arbeitsleben von Grund auf kennengelernt. Unter den Bauarbeitern, das waren etwa zwölf Leute, die sich zur Frühstückspause immer in der Baubude trafen, gab es einen Taubstummen. Der fragte immer, was man trinken wollte, und besorgte es dann. Natürlich tranken alle Bier. Ich wollte aber früh um halb zehn kein kaltes Bier in mich hineingießen. „Ich möchte Milch.“ – „Milch? Du willst Milch?“ Damit war ich natürlich das Gespött der Truppe: der Student, der Milch trinkt. Und nach ein paar Tagen tranken sie auf einmal nicht mehr alle Bier, sondern der eine trank Tee, der andere brachte Limonade … Die hatten jahrelang offenbar jeden Morgen um halb zehn eine Flasche kaltes Bier in sich hineingekippt, weil der Gruppenzwang es forderte.
Wie wird man selbstständig? Wie kommt ein Flüchtling, der seine Jugend in Indoktrination, wie es abstrakt heißt, verbracht hat, zum eigenständigen Denken? Das war für mich das Schwierigste. Wir waren es gewohnt dafür oder dagegen zu sein. Die Grautöne, die Zwischentöne hatten wir nie gelernt. Die nächste Enttäuschung war, dass unser Abitur im Westen nicht anerkannt wurde und wir eine Ergänzungsprüfung in vier Fächern machen mussten. Biologie, Latein, Deutsch und Geschichte. Der Geschichtslehrer empfahl uns vier Bücher, mit denen wir uns vorbereiten sollten, und dann haben wir nach DDR-Art eine Delegation gebildet und sind zu dem Geschichtslehrer gegangen: „Sagen Sie uns, aus welchem der vier wir uns vorbereiten sollen. Es kann doch nur eine Geschichte geben.“ – „Nein“, sagte er, „ihr sollt ja gerade differenzieren lernen.“ Aha, die wollen uns ärgern, dachten wir. Irgendwie bin ich aber durchgekommen. Das waren alles pensionierte alte Lehrer. Einer von ihnen war sehr gut, er kam wahrscheinlich selbst aus der DDR. Damals hieß es ja noch SBZ, Sowjetische Besatzungszone.
Als ich dann in Karlsruhe für das Architekturstudium zugelassen worden war, habe ich mich gefragt: Will ich das wirklich? Eigentlich möchte ich Kunst machen. Das war damals in der DDR für mich das freieste Fach. Es kam öfter vor, dass die Kunstlehrer flüchteten. Sie stiegen, wie wir später auch, in Bitterfeld in den Zug, fuhren nach West-Berlin und blieben dort. Der jeweils beste Schüler in dem Fach musste den Lehrer dann vertreten. So übernahm ich als Schüler zwei- oder dreimal den Kunstunterricht.
Günther Uecker übrigens auch, aber wohl nicht, weil er jemanden vertreten musste, sondern weil er so gut war.
In der Schule waren sie der Meinung, ich sei der Beste in der Klasse. Wer das entschieden hat, weiß ich gar nicht. Ich habe es aber gerne gemacht, weil es einigermaßen frei war. Alles andere war reglementiert. Sie konnten von einer Schule in die andere wechseln, in der jeweiligen Klassenstufe wurde überall dasselbe gelehrt. Jedenfalls wollte ich im Westen irgendetwas mit Kunst machen und habe mich dann erkundigt, bei welchem Studium, das in Heidelberg angeboten wird, die Zeit bis zum Examen möglichst lang ist. Ich hatte nämlich die naive Hoffnung, wenn man lange und fleißig genug künstlerisch tätig ist, muss man das Examen möglicherweise gar nicht mehr machen. Die Entscheidung fiel dann auf Jura.
Aber warum haben Sie nicht Kunst studiert?
Kunst wollte ich aus ganz bestimmten Gründen nicht studieren: Ich komme aus einer relativ kleinbürgerlichen Familie. Ich hatte eine starke Mutter, die 1946 ein Geschäft aufgemacht hat, um die Familie zu ernähren. Ich gehöre zu einer Generation, die praktisch ohne Väter groß geworden ist. Erst war er im Krieg. Dann war er in Gefangenschaft. Und dann ging er in den Westen. Die Mutter hat damals alle Probleme der Familie mit den Kindern besprochen. Das hat einen mit acht, neun, zehn Jahren völlig überfordert. Andererseits hat sie mich zum Beispiel einmal in die Schule begleitet, als in meinem Schulzeugnis der 5. Klasse stand: „Klaus ist zynisch.“ Das habe ich im Lexikon nachgeguckt, weil ich das Wort nicht kannte, und dachte: „Das bin ich nicht, ich bin möglicherweise ironisch.“ – Das Wort hatte ich schon gelernt. – „Ich bin auch jemand, der auf seine Weise frech ist. Störrisch, wenn mir nicht passt, was die anderen von mir wollen, aber ich bin nicht zynisch. Zynisch ist etwas Verächtliches.“ Meine Mutter ging mit mir zur Klassenlehrerin und sagte: „Wir haben festgestellt, dass mein Sohn nicht zynisch ist, und bitten Sie, das im Zeugnis zu streichen.“ Und tatsächlich habe ich ein neues Zeugnis bekommen. Ich habe sehr früh gelernt, nicht alles mitzumachen.
Sie hatten damals bereits einen Gerechtigkeitsanspruch.
Gerechtigkeitsanspruch, Gerechtigkeitsimpuls – wie auch immer man es nennen mag. Das hat mich natürlich auch ein bisschen zu Jura gelenkt. Das war mir nicht ganz fremd. Außerdem war es ein vernünftiges Studium. Meine Eltern sagten immer: „Junge, du wirst doch nicht Künstler werden wollen.“ Mit dem Künstler war natürlich die brotlose Kunst verbunden und so war es ja auch lange Zeit. Für mich jedenfalls. Jedes Mal, wenn ich an einer Ausstellung teilnahm, fragten sie: „Du wirst doch dein Studium zu Ende machen?“ Ich habe zehn Semester lang studiert – das war damals nicht ungewöhnlich –, und dann das erste Examen gemacht. Ich war in keinster Weise in der Lage, mich mit meiner künstlerischen Arbeit ernähren zu können. Also habe ich das zweite Examen gemacht, damals zweieinhalb Jahre Referendardienst, mit einer Pause von einem Jahr, sodass es schließlich dreieinhalb Jahre waren.
Günther Uecker gehörte in der DDR offenbar zu den Privilegierten. Er berichtete von einem Chauffeur und Freitickets durchs ganze Land. Haben Sie diese privilegierten Künstler im Osten damals wahrgenommen?
Dadurch, dass meine Mutter das kleine Geschäft hatte, konnte sie uns alle nicht nur gut ernähren, sondern auch alles bezahlen, was ich mir wünschte, das heißt, ich konnte auch überall hinfahren. Staatliche Hilfe war für mich gar nicht notwendig. Nun muss man wissen, Bitterfeld war wirklich Provinz. Es gab die berühmten „Bitterfelder Konferenzen“ „Greif zur Feder, Kumpel“ und „Die Höhen der Kultur erklimmen“. Damit war auch der Arbeiter gemeint, was ja per se keine dumme Idee war, sondern eher eine fortschrittliche. Wie sie dann umgesetzt wurde, war wieder etwas anderes. Ich habe nach der Wende mit zwei Freunden die „Dritte Bitterfelder Konferenz“ organisiert. Berlin war damals weit weg. Natürlich kannte man Käthe Kollwitz und ich habe sie auch geschätzt. Ich habe den Stahlarbeiter in sozialistischer Manier gemalt, getuscht und gezeichnet. Ich war voll im Trend des Sozialistischen Realismus. Der Höhepunkt war, wenn man mit der Schulklasse nach Berlin ins Berliner Ensemble fuhr und dort „Den aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ von Bertolt Brecht sah. Das war die große Welt. Es war für mich nicht einfach, mich nach der Flucht 1956 im Westen zurechtzufinden. Ich war immer neugierig und bin es bis heute – ich glaube, wenn man nicht mehr neugierig ist, ist man wirklich alt –, aber ich hatte Mühe. Ich weiß, was Flucht ist und was es bedeutet, einen Fluchthelfer zu suchen. Ich weiß, dass ich mit 14 einmal mit meiner Tante Gertrud, die in Düsseldorf lebte, in den Westen gereist bin. Hötensleben war im Osten die letzte Station vor der Grenze und dort liefen auf dem Bahnsteig die Leute hin und her auf der Suche nach jemandem, der sie rüberbrachte, der wusste, an welcher Stelle man durchschlüpfen konnte. Denn es gab zwar noch keinen Stacheldraht, aber es war natürlich trotzdem eine Grenze und die Grenzer patrouillierten. „Wollen Sie rüber?“ Dann wurde ein Pfand ausgehandelt und er führte uns durch ein kleines Bächlein. Das, was wir heute in einem ganz anderen Ausmaß erleben, das Flüchtlingsthema, das uns beschäftigt, unsere ganze Gesellschaft durcheinanderzubringen droht, war damals in gewisser Weise Alltag.
Was war im Westen Ihre erste Begegnung mit der Kunst?
Ich bin in jede Ausstellung gegangen. Düsseldorf war eine Metropole für Kunst. Mein erstes großes Erlebnis war die zweite documenta 1959.
Sind Sie damals alleine zur documenta gefahren?
Ja, ich bin alleine hingefahren. Und ich habe gestaunt, was im Westen alles als Kunst galt. In dieser Fülle, in dieser Prächtigkeit und ausladenden Menge. Das hat mich einerseits ein wenig erschreckt, andererseits hat es mich von meiner Westskepsis, die ich hatte, weil wir am Anfang so schlecht behandelt worden waren, befreit. Wir haben damals erlebt, was es heißt ein Flüchtling zu sein, den keiner haben will. Wir kamen damals in einer so großen Zahl, dass die Leute beunruhigt fragten: „Was wollt ihr alle hier?“ Ein Teil derer, mit denen ich in diesem Kursus in Heidelberg das Abitur nachgemacht habe, hielt das nicht aus und ging zurück in die DDR. Wir haben aber gesagt: „Als geschlagene, begossene Pudel zurückzugehen? Auf keinen Fall!“
Zurück zur documenta: Ich kann mich deutlich an ein großes Bild des Amerikaners Clyfford Still erinnern: schwarze Fläche, weitgehend mit roten Farbschattierungen. Unweit davon hing ein kleines Bild von Wols. Und ich dachte: Wie kühn von diesem Clyfford Still oder von den Kuratoren, den documenta-Machern, dieses riesige Bild so neben Wols zu präsentieren. Das war ein bleibender Eindruck. Erstens, überhaupt so ein Bild zu malen und dann damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Das war mir bis dahin fremd.
Was genau fanden Sie daran so kühn?
Ich kann es heute kaum mehr nachvollziehen. Ich könnte Ihnen genau sagen, an welcher Wand das Bild gehangen hat. Ich kann Ihnen sagen, wo und in welchem Abstand Wols hing. Es muss also einen enormen Eindruck auf mich gemacht haben. Ich kam von der documenta zurück und hatte einen veränderten Blick auf die Kunst. Ich hatte dort Werke von Pierre Soulages, von Ernst Wilhelm Nay, von Heinz Trökes und vielen anderen gesehen. Dadurch, dass ich nicht an der Kunstakademie war, hat mich das schon beeindruckt. Ich wollte aber auch nie Schüler an einer Kunstakademie sein. Ich habe mir gesagt: Entweder schlage ich mich so durch und schaffe es irgendwann oder ich scheitere eben. Ich habe übrigens nie bereut, dass ich Jura studiert habe. Keinen einzigen Tag. Ich habe auch nie bereut, dass ich aus der DDR geflüchtet bin. Ich bin jemand, der die Zelte, wenn er sich einmal entschlossen hat, hinter sich abbricht. Wenn ich umziehe, bin ich einen Tag traurig, weil ich die Gewohnheiten, in denen ich gelebt habe, nicht mehr in Anspruch nehmen kann, aber dann ist es auch vorbei. Ich war neun Jahre lang Präsident der Akademie der Künste, was nicht nur viel Arbeit bedeutete, sondern auch die Vernachlässigung der eigenen künstlerischen Arbeit. In meiner Not habe ich die Arbeit an und mit der Akademie schließlich zu meiner künstlerischen Arbeit erklärt. Jetzt, wo ich das Amt abgelegt habe, werde ich häufig gefragt: „Was machen Sie denn nun? Wie kommen Sie zurecht nach so langer Zeit? Ihnen fehlt doch sicher etwas?“ Nein, mir fehlt nichts. Ich habe das als meine Arbeit betrachtet und versucht es produktiv zu nutzen. Und jetzt ist es eben vorbei.
Wie haben Sie neben dem Jurastudium den Einstieg in die Kunstszene geschafft?
Das war in der Tat das Schwierigste. Heidelberg war nun mal kein Zentrum der Künstler. Es gab den Heidelberger Kunstverein, in dem ich lange Zeit Beiratsmitglied war, bis es mir zu viel wurde. Die Ausstellungen im Kunstverein habe ich natürlich mehrfach besucht. Ich war, wenn man so will, immer ein Staunender, der alles aufsaugt und versucht, das in seiner eigenen Arbeit zu verarbeiten und gleichzeitig immer seine eigenen Wege zu gehen. Wenn man zurückschaut, habe ich alle Stile durchgemacht. Nachdem ich beispielsweise in einer kubistischen Ausstellung war, habe ich diese Richtung ausprobiert. Ich war ein großer „Probierer“. An der Universität Heidelberg habe ich dann bei Herrn Eppler einen Zeichenkursus gemacht. Ich wollte richtig zeichnen lernen. Meine Aktzeichnungen – ich habe das alles noch – waren nicht großartig. Mit den Porträtzeichnungen war ich aber ganz zufrieden und habe versucht sie in der Weihnachtsausstellung des Heidelberger Kunstvereins unterzubringen. Das war meine erste Möglichkeit etwas auszustellen. Wenn ich da bereits an der Jury gescheitert wäre, wäre es ein Schock gewesen, und es hätte mich möglicherweise derartig deprimiert, dass ich den Weg nicht weiter gegangen wäre.
Das war also Ihre erste Ausstellung? Zu Weihnachten im Heidelberger Kunstverein?
Ja. Alle Künstler aus der Umgebung konnten ihre Sachen einreichen und entsprechend war auch die Ausstellung.
Wann war das?
Ich denke 1958. Ich war sehr stolz. So sehr, dass ich vor Ort war und mich in die Nähe meines Porträts gestellt habe, um zu schauen, ob jemand länger davor stehen bleibt. Ich habe auch Bekannte eingeladen, die Ausstellung zu besuchen, und dann auf mein Bild hingewiesen: „Das Bild ist von mir.“ Eigentlich wirklich lächerlich, aber vielleicht auch verständlich. Der Zweifel ist ein täglicher Begleiter, bis heute. Wer nicht mehr zweifelt, wird starr. Der Rezensent der örtlichen Zeitung hat meine Arbeit sogar mit einer Halbzeile erwähnt. In der Uni hatten wir dann eine Arbeitsgemeinschaft Kunst. Zwei, drei Freunde hatten sich zusammengetan, um gemeinsam eine Ausstellung zu machen. Das war dann 1960 im Haus Buhl. Das Haus gehörte der Universität und dort fanden regelmäßig Ausstellungen statt. Ich habe dort abstrakte Aquarelle gezeigt. Ein paar schöne kleine Bilder waren dabei und ich habe sie für 12 D-Mark verkauft. Die Leute kenne ich heute noch …
… die damals ein Aquarell von Ihnen erworben haben?
Die zwei Bilder für jeweils 12 D-Mark gekauft haben.
Wie kamen Sie in den 50er-Jahren darauf, Künstler werden zu wollen? Ihren Eltern zuliebe haben Sie Jura studiert …
Auch mir zuliebe. Ich wollte nie mit der Mappe unter dem Arm herumlaufen, mit meinen Arbeiten von Galerie zu Galerie ziehen oder sogar kühn ins Kunstmuseum oder den Kunstverein gehen: „Wollen Sie nicht meine Bilder zeigen?“ Dafür war ich immer viel zu stolz.
Welche Vorstellung oder Erwartung hatten Sie von der Kunst?
Kunst war für mich in der DDR die Berührung mit Freiheit. Entscheiden zu können, was man macht. Ich hatte die Aufgabe in der Schule die Arbeitsgemeinschaft Kunst zu leiten und bei Bedarf auch die anderen Arbeitsgruppen mit Bildern und Material zu versorgen. Einmal bereitete die Laienspiel-Arbeitsgemeinschaft Carlo Goldonis „Der Diener zweier Herren“ vor. Das Stück sollte im Elkani, das war eine Art großer Gesellschaftsraum am Rande von Bitterfeld, aufgeführt werden. Da die kleine Bühne dort keinen Vorhang hatte und man in der DDR nicht einfach losgehen konnte, um Stoff für einen Vorhang zu kaufen, schlug jemand vor: „Wir nehmen eine Wäscheleine und zwei Schilder. Auf das eine schreiben wir ,Vor‘, auf das andere ,hang‘ und das ziehen wir dann in der Pause zusammen.“ Auf dem Schulboden fanden wir ein großes Lenin-Plakat, das wahrscheinlich mal bei irgendeiner Demo rumgetragen worden war. Wir benutzten die Rückseite und als in der Pause jemand den „Vorhang“ zuzog, drehten sich die Pappen und es erschienen Hals und Kopf von Lenin. Riesengejohle. Die ganze Schule war versammelt. Das Pech war – oder nennen wir es Schicksal –, dass in der ersten Reihe unsere Paten saßen, das war die sowjetische Kommandantur von Bitterfeld. Diese Offiziere – andere wurden gar nicht zugelassen, das war ja eine Zwei- oder besser Fünf-Klassen-Gesellschaft –, die bis dahin starr in der ersten Reihe gesessen hatten, standen plötzlich auf und ich wusste: Jetzt hat meine Stunde geschlagen. Es musste ja immer ein Schuldiger gefunden werden und formal war ich der ja auch. Mein Klassenlehrer kam auf mich zu: „Das Problem müssen wir irgendwie lösen.“ Der hatte die FDJ mitgegründet und ich hatte eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihm. Ich habe die Schule gleichzeitig gehasst und geliebt. Ich wollte immer gerne etwas dazulernen. Jedenfalls hat mein Klassenlehrer es irgendwie geschafft, dass ich nach diesem Ungeschick, das ja objektiv gesehen tatsächlich eine Provokation war, nicht von der Schule geworfen wurde. Von dem Tage an wusste ich: Das kleinste Vergehen und du fliegst von der Schule. Das hat es mir sehr schwer gemacht.
Standhalten oder flüchten? Diese Frage stellte sich mir einige Zeit später ein weiteres Mal. Damals wurde in der DDR die Volksarmee gegründet und es kamen Leute in die Abiturklassen, die um uns warben: „Willst du nicht in die Volksarmee eintreten? Dich verpflichten?“ Ich hatte mit meinen Freunden beschlossen: Wir verpflichten uns nicht. Egal, was sie mit uns anstellen. Während des Unterrichts wurden wir aus der Klasse geholt und saßen dann zwei Leuten gegenüber: „Bist du für den Frieden?“ Natürlich ist man für den Frieden. „Bist du ein Freund der Sowjetunion und aller Gegner des Klassenfeinds?“ – „Natürlich.“ – „Warum verpflichtest du dich dann nicht?“ Aber wir blieben dabei. Eine Klassenkameradin, sie war FDJ-Vertreterin, erzählte mir von einem Gespräch zwischen dem Rektor, einer Lehrerin und dem FDJ-Leiter der Schule, bei dem der Rektor gesagt habe: „Mit solchen Kanaillen wie dem Staeck und dem Wischnewski“, das war ein Klassenkamerad, „kann man nie eine Volksarmee aufbauen.“ Da habe ich gesagt: „Was? Ich bin für den Rektor eine Kanaille und will hier in einem Vierteljahr mein Abitur machen? Wie soll das gehen?“ In der Not lege ich immer den Vorwärtsgang ein. Ich entschied: An dieser Schule wird das sicher nichts. Da in der DDR in der ganzen Republik in jeder Klasse dasselbe gelehrt wurde, habe ich einen Antrag auf Versetzung gestellt. Ich bin zu meinem Klassenlehrer gegangen und habe gesagt: „Ich möchte an eine andere Schule versetzt werden. Mit diesem Urteil des Rektors habe ich hier sicher keine Chance mehr.“ – „Bist du verrückt geworden?“ Der Klassenlehrer sprach mit dem Rektor darüber und der bekam plötzlich einen Schreck. So war die DDR. Auf einmal stand der Rektor im Geschäft meiner Mutter und kaufte ein Kaffeeservice. Das erzählte sie mir: „Dein Rektor war hier und er war sehr freundlich.“ Ich dachte: Aha, der hat den Rückwärtsgang eingelegt, vielleicht kann ich doch an der Schule bleiben. Er hat sich ja quasi entschuldigt. Aus seiner Sicht hat er des Guten sogar zu viel getan. Damals gab es einen Schulappell. Dazu mussten wir uns alle früh auf dem Schulhof im Karree aufstellen, es wurde eine Fahne hochgezogen und dann wurden die Belobigungen und Tadel ausgesprochen. Jemandem, der in West-Berlin gewesen war und mit Samba-Latschen ankam, wurden zum Beispiel die Schuhe weggenommen. Außerdem bekam er einen Tadel. Ich bekam plötzlich für gute Arbeit an der Wandzeitung eine Belobigung – ich hatte aber an der Wandzeitung gar nichts gemacht. Und jetzt passierte das Perfide. Meine Freunde, mit denen ich verabredet hatte, dass wir uns nicht erpressen lassen, dachten, ich hätte einen Deal gemacht: „Was hast du mit dem vereinbart?“ Auf einmal drohte ich meine Freunde zu verlieren und war doppelt isoliert. Mühsam ist es mir gelungen, sie davon zu überzeugen, dass er offenbar Angst hatte, dass ich aufsässig werde und er nach oben melden musste, warum der Schüler Staeck kurz vor dem Abitur an eine andere Schule versetzt werden will. Das musste ja alles irgendwie begründet werden, wenn einer plötzlich aus der Schafherde ausbrach. Das war nicht vorgesehen.
Und an solchen Prozessen haben Sie auch gemerkt …
Daran habe ich gemerkt, was für ein perfider Staat das war. Nichts wie weg. Das habe ich allerdings schon am 17. Juni in Bitterfeld gemerkt, wo der Aufstand besonders heftig war. Das war wirklich ein Arbeiteraufstand. Da wusste man, was man von der DDR zu halten hatte.
Wo haben Sie in Heidelberg den Anschluss zur Kunstszene gesucht?
Es gab ja kaum Leute, mit denen man sich künstlerisch zusammentun konnte. Die Weihnachtsausstellung war das Sammelbecken aller Künstler aus Heidelberg und der Region. Es gab aber diesen kleinen Zusammenschluss von Freunden. Mit selbst gebastelten Plakaten und Linolschnitt haben wir die Ausstellung „Experiment“ gemacht. Dann kam das Haus Buhl und so kam eins nach dem anderen. V. O. Stomps, der in Stierstadt seine Eremiten-Presse hatte, war auf mich aufmerksam geworden, und so konnte ich eine dieser „Passgänge“-Bücher
illustrieren. Dann gab es die kleine Maistraßenpresse in München … Und ich habe auch immer meine Sachen herumgeschickt. Unter anderem, das mache ich bis heute, eine selbst gebastelte Neujahrskarte. Irgendwann fing ich an, Holzschnitte zu machen. Ich wollte immer etwas Vervielfältigtes haben. Nicht bloß ein Aquarell oder ein Gemälde. Ob das etwas mit der DDR zu tun hat, weiß ich nicht, aber es hat mich sehr früh interessiert, mit Techniken zu arbeiten, mit denen man etwas vervielfältigen kann. Angefangen habe ich mit einer 200er-Auflage von Holzschnitten, die ich an Weihnachten verschickt habe. Unter anderem auch an Joseph Beuys, dessen Namen ich, glaube ich, von der documenta her kannte. Es ging Schritt für Schritt. Ich war immer sehr fleißig, was die Kunst anbelangt.
Und Sie hatten damals gar keinen Kontakt zu anderen Künstlern?
Ich hatte kaum Kontakt. Ich druckte Holzschnitt um Holzschnitt. Zunächst einmal ging es um meine Kunst. Ich produzierte und produzierte. Dann hing mal etwas im Restaurant Sole D’Oro hier in Heidelberg und da verkaufte ich ein Blatt für 20 D-Mark. Hin und wieder verkaufte ich hier und dort etwas, aber …
Sie haben zu Beginn abstrakt gearbeitet, das heißt, Sie hatten nicht von Anfang an diesen gesellschaftlichen, politischen Ansatz …
Gar nicht, nein.
Es war noch nicht der Demokratieanspruch, der vielleicht später mit der „Edition Staeck“ hinzukam, oder sonst irgendeine politische Motivation, sondern Sie produzierten etwas und trugen es in die Welt.
Ich versuchte es in die Welt zu tragen. Auf ganz bescheidenen Wegen. Ich sah mich um, wer sonst so etwas Ähnliches wie ich machte, und ich habe immer viele Ausstellungen besucht.
Wo haben Sie die Ausstellungen gesehen?
Weitgehend in Westdeutschland, in der Republik. Hauptsächlich war ich in Düsseldorf, das war natürlich ein wichtiger Bezugspunkt. Die Holzschnitte habe ich immer weitergetrieben und dann auch farbige Holzschnitte gemacht. Dadurch habe ich sehr viele Schulden angehäuft, denn die kleine Druckerei im Hasenleiser in Heidelberg, wo ich das machte, war zwar freundlich und hat meine Experimentierlust auch gefördert, aber die Rechnungen musste ich trotzdem bezahlen. Der Höhepunkt war 1967, als ich den Kalender „Konsumgedenktage“ mit Collagetechniken druckte. Es wurden 500 Stück gedruckt, allerdings zu einem Zeitpunkt, als das Kalendergeschäft, wie mir dann die Buchhandlungen sagten, längst gelaufen war. Die orderten im Frühjahr für das nächste Jahr ihre Kalender. Ich lief dann herum: „Wollen Sie nicht einen Kalender in Kommission nehmen?“ Unter anderem war ich bei Walther König, der damals den ersten Kunstmarkt in Köln mitmachte.
Ich habe also versucht mit anderen Kontakt aufzunehmen, war aber auch zu dem Zeitpunkt noch nicht in der Lage mit den Holzschnitten rumzulaufen: „Wollen Sie das nicht ausstellen?“ Die Zeit damals war für Selbstorganisation eigentlich sehr günstig. Egal, auf welchem Gebiet. Filmverlag der Autoren, Buchhandlung der Autoren und so weiter. Ich habe damals gedacht: Vielleicht kann man das auf etwas größere Füße stellen, indem man andere dazuholt.
Mit der Idee der Edition kam 1965 der entscheidende Einschnitt. Neben der Edition Tangente gab es einen studentischen Klub, die galerie t, und ich dachte: Vielleicht kann man mit denen eine Kooperation eingehen und die Editionen, natürlich nicht nur meine eigenen Arbeiten, dort ausstellen? Ich hatte mir vorgestellt, mit denen eine Art Abonnement zu vereinbaren. Alle sechs Monate machte ich vier, fünf Stück, manchmal waren es auch acht – das Abonnement sollte 25 D-Mark kosten. Insgesamt habe ich vielleicht zwei oder drei Abonnenten gefunden. Immer noch voll Hoffnung zog ich mit den Ausstellungen dann in den studentischen Klubs in Stuttgart, in Freiburg und Berlin umher. Das war aber insofern ein Irrweg, als die Blätter durch das Rauchen sehr in Mitleidenschaft gezogen wurden. Nach fünf Jahren habe ich zu den Eigentümern der Klubs gesagt: „Wir trennen uns. Ihr bekommt von allem, was wir verlegt haben, noch je ein Blatt und übernehmt einen Teil der Schulden. Ich übernehme den anderen Teil und mache alleine weiter.“ Da ich immer ein politischer Mensch war und auch versuchte, politisch zu agieren, hatte ich zwischendurch auch andere Kontakte aufgenommen. 1960 bin ich in die SPD eingetreten. Dort waren unter anderen auch Wolf Vostell und KP Brehmer. Leute, die mir auch politisch mit ihrer Arbeit lagen. Wenn ich auf Ausstellungen war, habe ich mir anschließend die Kataloge gekauft und mir hinten die Leihgeber herausgeschrieben. Bei der Post, damals konnte man die Telefonbücher noch einsehen, habe ich dann versucht, die Adressen der Leihgeber herauszufinden, um denen ein kleines Prospektchen – ein DIN-A4-Blatt, mit Preisangabe und Beschreibung – zu schicken. Das war ein sehr mühsamer Weg. Aber irgendwann kam dann das, was wir Durchbruch nennen: Es war immer mit einer Art Größenwahn verbunden Leute zu verlegen, die ich toll fand, die aber nicht unbedingt von anderen geschätzt wurden. Ich habe zum Beispiel sehr früh Blätter von Blinky Palermo verlegt. Die kosteten damals 35 D-Mark und fast niemand wollte sie haben.
Woher kannten Sie Blinky Palermo?
Meine eigentliche Bezugsperson war Beuys. Ein Freund hatte mich auf der documenta 1968 erneut auf ihn aufmerksam gemacht. 1965 war die Gründung der Edition Tangente. Vostell war einer der ersten Bekannteren, der mich unterstützt hat. Horst Antes hatte auch ein kleines Bild gemacht, KP Brehmer, Blinky Palermo und dann Beuys 1968. Ihn habe ich für meine Postkarten-Arbeit interessieren können. Ich war der Meinung, in vielen Städten gibt es immer nur die blöden touristischen Postkarten und man müsste mal versuchen eine Alternative zu entwickeln. Künstler sollten für Kassel, für Köln, für Heidelberg, für New York, für München und so weiter eine Postkarte machen. Und Beuys war sofort bereit, er war begeistert.
Wie kam der Kontakt mit Beuys zustande?
Ich bin auf der documenta einfach zu ihm hingegangen. Ich habe mich in Kassel erkundigt, wann er da ist – Beuys nutzte die documenta immer sehr, auch für seine eigene Präsenz, das war ja das Tolle an ihm –, und habe ihn dann angeschwatzt. Wir benutzten irgendeine Ansichtskarte von Kassel und verfremdeten sie ein bisschen. Auf eine Plastik, die auf der Karte abgebildet war, setzte ich das Zeichen der „documenta 4“ und druckte die Karte dann in Braun – das war ja seine Farbe. Er hat noch den Stempel der Deutschen Studentenpartei draufgedruckt. Außerdem habe ich unter anderem Dieter Roth, Vostell und Nikolaus Jungwirth gefragt und habe auch von mir selbst eine Postkarte verlegt. Ich hatte ungefähr zehn beisammen und dachte: Jetzt gehe ich damit nach Kassel zur documenta. Ich hatte aber, jedenfalls nach Meinung des netten documenta-Leiters Herrn Arnold Bode, einen Fehler gemacht, indem ich hinten draufgeschrieben hatte: Joseph Beuys, Titel, „documenta 4“. Und zwar ohne Herrn Bode zu fragen. Das war natürlich nach seiner Meinung eine Anmaßung, da die Postkarte kein offizielles Produkt der documenta war. Bode verbot entsprechend den Verkauf der Postkarten auf dem gesamten documenta-Gelände. Jetzt hatte ich aber in völligem Irrsinn je 20.000 Postkarten produzieren lassen.
Sie waren offenbar wirklich davon überzeugt, dass Sie dafür Abnehmer finden würden.
Ja. Ich glaubte einen Bedarf erkannt zu haben, nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass die documenta-Leitung sich in den Verkauf einschalten würde. In meiner Not habe ich eine Banderole gemacht, ein Mäppchen, und versucht das zu verkaufen. Irgendwann ging ich zu Beuys und sagte: „Joseph, du musst mir helfen. Die Leute lieben doch alles, was signiert ist. Du musst mir die Karten signieren. Wir machen eine Serie von 30 Stück mit der Signatur von allen Künstlern.“ Das haben wir dann gemacht und haben sie einzeln für 5 D-Mark das Stück verkauft. Heute kosten sie mehr als 100 Euro. Mein Schuldenberg hatte sich also wesentlich erhöht, er war fast explodiert und dann kam der nächste Größenwahn: 1969 hatte der Kunstverein in Heidelberg ein Jubiläum. Dazu organisierten sie eine Ausstellung mit Plastiken, zu der die bekannten Akteure eingeladen waren, im Vorgarten des Heidelberger Kunstvereins ihre Skulpturen auszustellen. Ich war damals Tutor im Studentenheim am Klausenpfad, eine riesen Studentensiedlung, in der 700 Studenten wohnten, und habe zu einem Freund, Jochen Goetze, der woanders Heimleiter war, gesagt: „Das ist doch nicht zeitgemäß, was die dort im Kunstverein vorhaben. Das müssen wir anders machen. Wir müssen selbst etwas machen. Wir haben hier doch große Studentenheime, Räumlichkeiten aller Art, lass uns doch mal die Leute einladen, von denen wir glauben, dass sie das Zeitgenössische verkörpern.“ Wir hatten damals den Katalog „When Attitudes Become Form“ sowie zwei andere Publikationen in die Hände bekommen und sind die Bücher einfach durchgegangen, um auszuwählen, wen wir einladen.
Hatten Sie die Ausstellung in Bern damals gesehen?
Nein, aber wir hatten natürlich gehört, dass Christo die Kunsthalle Bern, damals sagte man noch „verpackt“ hatte. Ihn haben wir zum Beispiel eingeladen. Schon damit waren wir beschäftigt: Wie kann man ihn locken? Er ist Amerikaner. Was kennen die Amerikaner? Wahrscheinlich das Heidelberger Schloss. Also: „Willst du nach Heidelberg kommen und anlässlich der ‚intermedia‘“, das ganze Festival war auf drei Tage angelegt, „das Schloss verpacken?“ Christo sagte zu und dann haben wir sofort mit der Schlossverwaltung Kontakt aufgenommen. „Sind Sie wahnsinnig? Wissen Sie, wie groß das ist? Sie wollen das verpacken? Aus dem Schloss fließt eine Art Wasserader. Wenn das so hermetisch abgeschlossen ist und eine Windböe kommt, besteht die Gefahr, dass das eingedrückt wird. Wollen Sie die Verantwortung übernehmen, dass das Heidelberger Schloss einstürzt?“ – „Natürlich nicht.“ Jetzt hatte uns Christo doch aber schon zugesagt. Wir überlegten, er könnte doch eines der Studentenheime, ein Hochhaus, verpacken. Christo erklärte sich bereit, darauf umzusteigen. Bis es dann hieß: „Durch das Verpacken entsteht solch eine Wärme, dass alle während der Zeit, in der Sie das machen, raus müssen.“ Die 200 Studenten waren natürlich nicht bereit für mehrere Tage das Haus zu verlassen. Das wurde also auch nichts. Schließlich kamen wir auf das Amerika-Haus. Das wurde damals noch von zwei Amerikanern geleitet. Heute macht es ein Deutscher als Deutsch-Amerikanisches Institut. Die waren jedenfalls bereit.
Aber selbst das stellte sich als ein kaum zu bewältigendes Projekt heraus. Zuallererst brauchten wir eine Folie. Dass die Feuerwehr ein wichtiger Partner war, hatten wir schon gelernt. Die haben gesagt: „Sie können das Haus verpacken, aber es muss feuerfestes Material sein.“ – „Was bedeutet das?“ – „Steine, Eisen, Beton.“ – „Kommt alles nicht infrage. Was ist die nächste Kategorie?“ – „Schwer entflammbar.“ Das klang schon besser. Wir sind zu BASF nach Ludwigshafen gefahren und haben gesagt: „Haben Sie ein schwer entflammbares Material, das Sie uns überlassen könnten?“ Den Begriff Sponsoring gab es damals noch nicht, aber wir hatten gehofft, dass sie uns das Material spenden. „Wir haben eine Folie, die als schwer entflammbar gilt, sie ist aber noch in einem Prüfverfahren. Wir geben Ihnen die Folie, Sie dürfen aber nicht sagen, woher Sie sie haben. Sollte etwas passieren, sind wir draußen.“ Wir haben ausgerechnet, wie viel wir brauchen. Eigentlich waren es nur zweieinhalb Seiten, hinten sollte das Haus gar nicht verpackt werden. Es war ein ganzer Lastwagen voll dieser Folienrollen, sogenannte Gitterfolie. Die Rollen mussten dann irgendwie aufs Dach. Wir konnten ein paar Studenten aus dem Studentenheim mobilisieren und hatten außerdem noch eine Schulklasse, die uns helfen sollte. Wir waren der Meinung, wir schaffen die ganzen Rollen aufs Dach, knüpfen die Bahnen zusammen und lassen sie dann runter. Als Nächstes stellten wir fest, dass wir nicht bedacht hatten, dass dort eine Laterne mit einer Leitung quer über die Straße ging. Schon beim ersten Versuch, die Folie runterzulassen, hing der Vorhang fest. Also wieder zurück. Das ging aber auch nicht – wir stellten fest, Christo hatte eine wunderbare Skizze gemacht, aber er hatte es offenbar noch nie selbst ausprobiert. In Bern hatte das eine Firma gemacht. Wir mussten also noch mal von vorne anfangen und den ganzen Kram wieder auseinanderknippeln. Im Studentenwohnheim lebte ein Student, der Bergsteiger, war und den haben wir dann zu Hilfe geholt: „Du musst mit deiner Bergsteigerausrüstung kommen und auf ein kleines Türmchen klettern. Wir reichen dir die Folie an und auf Kommando lässt du die Bahnen runtersausen.“ So haben wir es dann auch gemacht. Etwas anderes, was wir nicht bedacht hatten, war der Schutz des Schieferdachs. Das hatten wir während der Aktion völlig zertreten und dann hieß es: „Bitte bezahlen Sie ein neues Schieferdach.“ Zudem hatten wir auf Spenden gehofft, weil alle immer sagten: „In Heidelberg muss mal etwas Aktuelles passieren.“ Wir dachten wirklich, die würden uns alle finanziell unterstützen.
Was heißt „alle“?
Alle, die man in Heidelberg so kannte und denen wir von unserem Vorhaben auch erzählt hatten.
Was waren das für Leute?
Leute von der Universität, Professoren, Assistenten, Freunde, die wir hatten. Wir hatten zu Beginn der Aktion, Himmelfahrt war der erste Tag, noch 200 D-Mark. Wir hatten aber schon Tausende D-Mark Schulden angehäuft, denn die meisten Künstler waren wirklich gekommen. Es fielen Reisekosten an, ein Haufen Material- und Übernachtungskosten.
Wo haben die Künstler gewohnt?
Teilweise haben wir sie privat untergebracht, teilweise im Hotel – wir waren über beide Ohren verschuldet. Und dann kam das Schieferdach noch dazu. Und unser Freund Jörg Immendorff , der eine Lidl-Sportaktion machte: Um seine Veranstaltung anzukündigen, klebte er DIN-A4-Blättchen an alle großen Thermopenscheiben des Klubhauses, dem Zentrum des Geschehens. Ich, mein Freund Jochen Goetze und der Hausmeister haben Immendorff sofort gefragt: „Sag mal, geht das wieder ab?“ – „Ja, das muss man nur ein bisschen wässern.“ Als es nach der Aktion nun um das Beseitigen der Schäden ging – es waren wirklich 5.000 Leute gekommen und durch den Eintritt, den sie zahlten …
Wo wurde der Eintritt erhoben?
In diesem Klubhaus. Das war die Hauptzentrale. Da haben wir vorne eine kleine Kasse gemacht und die Leute haben etwa 5 D-Mark bezahlt. 20.000 D-Mark haben wir eingenommen.
Wie haben Sie für das Projekt geworben?
Wir haben Briefe verschickt. Und es hat sich natürlich auch rumgesprochen.
Wie lange war die Vorbereitungszeit?
Das war relativ kurzfristig. Wir hatten vielleicht zwei, drei Monate von der ersten Idee bis es dann durchgeführt wurde. Jeder wollte plötzlich dabei sein. Wir hatten mit Beuys und Vostell geworben. Vostell war mit Beuys über Kreuz. Beuys konnte damals nicht, weil er zu der Zeit die Akademie der Künste in Düsseldorf besetzte. Aber seine Schüler kamen: Katharina Sieverding, Blinky Palermo, Immendorff mit seiner Gruppe, Günther Uecker, der in Erinnerung an das Geschehen in Vietnam eine Fallgrube aushob, und die Polke-Leute. Nach über 40 Jahren haben wir nun eine Dokumentation darüber gemacht.
Haben Sie mit den Künstlern die Projekte im Voraus genau besprochen?
Soweit es ging.
Es waren sehr viele Künstler beteiligt und einige von ihnen damals schon bekannt. Wie reagierten die Leute, insbesondere hier in Heidelberg?
Es war natürlich ein Fremdkörper. So hatten wir es ja auch konzipiert. Die kleine Veranstaltung im Kunstverein war der offizielle Part der Stadt und das andere war das organisierte Chaos. Wir schwärmten natürlich auch in die Stadt aus. Es hieß: „Die machen in einem Restaurant eine Tortenschlacht, nehmen den Kellnern die Torten aus der Hand und werfen sie durchs Lokal.“ Und Christo beispielsweise steht bis heute nicht zu diesem Projekt. Es ist ihm nicht geheuer und letztlich ist es ja auch unvollendet geblieben. Trotzdem musste hinter dem Haus die ganze Zeit ein Auto von der Feuerwehr stehen und es mussten Zählrohre im Haus verlegt werden, immer für den Fall, dass es brennt. Wir hatten auch nicht damit gerechnet, dass die berühmten Studentenrevolutionäre der 68er-Zeit, die heute so heroisiert wird, dagegen sind. Ich war nie ein 68er, auch wenn viele das denken. Ich war Sozialdemokrat und wusste genau, der ganze Zirkus geht vorbei. Ich dachte damals: Wollen wir mal schauen, wo die Leute landen, die heute an den Universitäten Revolution spielen. Und wo sie heute gelandet sind, das ist immer noch spannend. Die hatten etwas dagegen, weil es das Amerika-Haus war. „USA-SS“ sprayten sie an die Fläche. „Kunst als Weißmacher“. Nach drei Tagen haben wir die ganze Sache freiwillig beendet. Das Risiko war zu groß geworden.
Die Heidelberger nahmen es wahr, als wäre ein Ufo gelandet und hätte hier die Aliens ausgesetzt. Wir waren dann auch überfordert. Die Frau von meinem Freund Goetze sollte ein Kind bekommen und ich weiß noch, wie wir drei Tage vorher auf dem Sofa saßen und sie sagte: „Du ruinierst unsere Familie.“ Der Vorwurf war zu Recht erhoben worden. „Hier entstehen Kosten, Kosten, Kosten.“ Einer wollte mit drei Elefanten wie Hannibal über die Alpen kommen. „Stell dir mal vor, der kommt jetzt wirklich. Dann bringen wir die im Zoo unter.“ Also wir waren wirklich überfordert, sodass wir vieles gar nicht mehr steuern konnten. Zum Beispiel hatten wir vergessen im Klubhaus die Garderobenmarken wegzunehmen, und irgendwann kam der Hausmeister und sagte: „Gucken Sie mal den Typ da an! Der hat die Garderobenmarken alle als Halskette um. Jede kostet 2 D-Mark. Die müssen Sie alle bezahlen, wenn er sie nicht wieder hergibt.“ Oder dann hatten die Leute Herzchen in die Furniere des Klubhauses geschnitzt. Und aus Bochum war eine Motorradkommune gekommen, mit schweren 500er-Maschinen. Die fuhren dort immer durch den Saal. Es liefen aber auch kleine Kinder herum …
Also es war die totale Enthemmung. Viele haben Kunst als Befreiung empfunden. Und der Normalmensch empfindet Befreiung oft auch als Zerstörung. Es wurden kleine Bäumchen umgelegt, in den Nachbarstudentenhäusern wurden die Eisschränke geplündert und so weiter. Die Leute waren außer Rand und Band und wir konnten sie nicht mehr stoppen. Wenn einer ans Mikrofon ging, kam der Nächste und nahm es ihm weg. Das Tollste, woran ich mich heute erinnere, war die Theateraufführung, heute würde man „Performance“ sagen, die Pistoletto und seine Frau machten, die wir zusammen mit Lo Zoo, übersetzt „Zoo“, eingeladen hatten. Die haben zum Schluss noch ein bisschen Ruhe in das Ganze gebracht.
Wo hat das stattgefunden?
Auch in dem Klubhaus. Das ist ein großes Klubhaus mit einem großen Saal und da spielte sich alles ab. Also es ist viel passiert, aber uns völlig aus den Händen geglitten und dann auch aus dem Ruder gelaufen. Gott sei Dank war uns von der Studentenhilfe Dr. Gerling zur Seite gesprungen. Er war kunstinteressiert und als er merkte, die Jungs sind völlig überfordert und überschuldet, setzte er sich beim Gerling-Konzern für uns ein. Wir haben ein bisschen Geld bekommen und dann bin ich zu den Künstlern gegangen, die schon etwas bekannter waren, angefangen bei Beuys, und habe denen gesagt: „Entweder bin ich jetzt pleite und dann ist es mit der schönen Edition Tangente zu Ende oder ihr macht mir jetzt ein Objekt.“ Sie haben alle sofort mitgemacht. Klaus Rinke hat eine Wasserfontäne steigen lassen („Senkrechter Wasserstrahl“). Beuys hat diese berühmte Schwefelkiste gemacht („Zink- und Schwefelkiste (mit tamponierter Ecke)“). Dieter Roth hat einen Gartenzwerg aus Schokolade gemacht („Gartenzwerg als Eichhörnchenfutterplastik“). Uecker hat „Schatten + Licht“, mit einem Nagel auf einem Metallpodest, gemacht. André Thomkins hat etwas gemacht. Ich habe natürlich selbst ein Objekt gemacht. Polke, der nicht da war, hat den berühmten Kartoffel-Apparat gemacht, mit dem eine Kartoffel eine andere Kartoffel umkreisen kann („Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann“). Und, und, und. Das hat mir dann ein bisschen geholfen.
Wo haben Sie Objekte verkauft?
Auch wieder über den kleinen Vertriebskanal, den Vertriebskanal der Edition Tangente. Die Kartoffelmaschine von Polke kostete damals 330 D-Mark. Neulich ist eine versteigert worden: 64.000 US-Dollar. Die Beuys-Kiste hatten wir mit einer Auflage von 200 angelegt. Die kostete 1.100 D-Mark. Das hat kaum jemand gekauft. Es war ein ewiges Suchen und Ringen, so kann man das wirklich pauschal beschreiben.
Das heißt, die Edition Staeck ist aus einer finanziellen Not heraus erstanden?
Ja, das kann man eigentlich so sagen. Die Not war immer Begleiter. Ich habe einmal weit über 100.000 D-Mark Schulden gehabt. Das hat mich nicht bedrückt – eigentlich rätselhaft –, weil ich immer der Meinung war: Das ist wichtig. Zu meinen eigenen Arbeiten: 1969 ist das erste Betende Hände-Plakat entstanden, mit den Schraubzwingen drauf, Dürers Hände.
Das ist bereits 1969 entstanden und wurde 1971 erstmals gezeigt?
Nein, das war das Dürer-Mutter-Plakat. Das war das zweite. Auch da habe ich zuerst eine Grafik gemacht. Nummeriert und signiert. Aber die Leute sagten: „Warum soll ich dafür 30 D-Mark ausgeben? 5 D-Mark würde ich ein Plakat geben.“ So hoch waren ja beinahe schon die Druckkosten, aber ich habe es trotzdem gemacht. Das war meine eigene Befreiung. Was ich immer wollte, war in die Öffentlichkeit hinein zu wirken. In die Öffentlichkeit gehen. Die Dürer-Jubiläumsausstellung in Nürnberg 1971 war dann der erste Versuch: Wenn man raus aus der Galerie, aus dem Museum, aus dem Kunstverein an Litfaßsäulen geht, sehen die Leute das überhaupt? Das Plakat wirbt für kein Produkt und für keine Veranstaltung. Sehen die Leute, was man ihnen da mitteilen möchte? „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten?“ Das haben wir alles anonym gemacht. Die Reaktionen waren wunderbar. Wenn das nicht bemerkt worden wäre, wäre mein künstlerischer Lebensweg möglicherweise ein anderer geworden.
Auf der „documenta 2“ haben Sie die Abstrakten Expressionisten gesehen, sieben Jahre später zeigten Sie hier in Heidelberg Künstler wie Vostell, Uecker, Beuys und Christo. Wie veränderte sich Ihr Kunstverständnis in dieser Zeit? Können Sie die Stimmung beschreiben, die Sie mit der Kunst damals verbunden haben?
Es war eine hermetische und gleichzeitig eine Aufbruchsstimmung. Es war beides. Die politische Situation war ja eine ewige Adenauer-Zeit. Das war ein erstarrtes System. Dann kam ein bisschen Erhard, das ging schnell vorbei. Und dann kam 69, 70, 71, 72, wirklich ein gesellschaftlicher Aufbruch: Dann kam Willy Brandt. Das war auf einmal das andere Deutschland. Vorher war immer noch die mitgeschleppte Nazizeit. In meinem Jurastudium habe ich das extrem erlebt. Die Leute wollten keine Vergangenheitsbewältigung, um dieses Schreckenswort mal zu benutzen, sie wollten weitermachen.
Mit „sie“ meinen Sie die Professoren?
Alle wollten weitermachen. Die hatten doch alle irgendwie überlebt. Die anderen hatten sie zum großen Teil umgebracht. Mein Ortsvereinsvorsitzender der SPD hat mir unter Tränen gestanden, dass er bei demselben Mann, der ihn ausgebürgert hatte, hier in der Stadtverwaltung in Heidelberg, wieder seine Einbürgerung beantragen musste, nachdem er das KZ überlebt hatte. Der alte Nazibürgermeister von Heidelberg wurde nach dem Krieg von der Bevölkerung mit absoluter Mehrheit wiedergewählt. Das war eine Kontinuität. Adenauer hat Hans Globke, einen der Kommentatoren der Nürnberger Rassengesetze und damit einen der Haupttäter, zu seinem Staatssekretär gemacht. Das war das Signal: Alles ist vergeben und vergessen. Dann gab es einen fantastischen Mann, Fritz Bauer, an den wir uns in letzter Zeit Gott sei Dank wieder intensiver erinnern, der Generalstaatsanwalt von Hessen, der den Auschwitz-Prozess in Gang gesetzt hat. Das war der wirkliche Beginn einer Auseinandersetzung mit der Schreckensvergangenheit. Bauer wurde natürlich angefeindet. Er sagte einmal: „Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland.“ Aber die Zeit der Erstarrung hatte damit ein Ende. Natürlich auch durch die 68er, so wahnsinnig es zum Teil war. Die Heidelberger wollten nie zu Mao Tse-tung, aber die Anführer der Revolte oder Revolution – oder wie man es auch immer nennen mag – meinten, das sei ein Weg. Es gab Delegationen, die zu Pol Pot gefahren sind, einem der größten Massenmörder nach dem Zweiten Weltkrieg. Dennoch, sie haben eine Unruhe in diese Gesellschaft gebracht, die vieles infrage gestellt hat. Und das war dringend notwendig. Man kann über Fritz Teufel denken, was man will: In der Jurisprudenz hat er etwas Großartiges in Bewegung gesetzt. Als es im Prozess um seinen Lebenslauf ging, sagte er: „Interessanter und wichtiger ist doch Ihr Lebenslauf, Herr Richter. Sie richten doch jetzt über mich.“ So etwas war bis dahin undenkbar gewesen.
Und was hatte die Kunst dabei für eine Rolle?
Die Kunst ist durch 68 nicht groß weitergebracht worden. Jochen Hiltmann war jemand, der mit seinen koreanischen und chinesischen Holzschnitten auf einmal auf 68er-Kunst umschaltete. Die 68er, wenn man das so pauschal sagen darf, waren eher kunstfeindlich. Wie man 1969 an der „intermedia“ sah. Plötzlich waren sie unsere Gegner. Die Bürger duldeten das irgendwie, aber die Studenten waren wirklich unsere Gegner geworden. Sie hatten ein furchtbares Kunstverständnis. Dazu gehörte zum Beispiel der ISK. Oder in Berlin hat jemand eine Arbeit über mich geschrieben, um mich als Arbeiterverräter zu entlarven. Dafür hat er eine glatte fünf bekommen. In einer Ausstellung in Berlin sind meine Plakate auch mal als Feindbilder gezeigt worden. Das waren diejenigen, die heute meinen, sie seien die Avantgarde.
Aber noch einmal: Die ganze Unruhe hat auch zu diesen Entwicklungen, wie den Wählerinitiativen, geführt. Bis dahin hatte es das nicht gegeben. Und die Wählerinitiativen waren für meine Plakatkunst wiederum interessant und wichtig. Sie brauchten auch Material und kamen auf die Plakate, die mal in der Zeitung abgebildet waren oder die wir immer noch weiter mit unserem kleinen Mund-zu-Mund-Beatmungs-Vertriebssystem bekannt machten. Die Dürer-Mutter machte einen auch in der Szene ein bisschen bekannt. Und das zweite Plakat „Die Reichen müssen noch reicher werden, deshalb CDU“ wurde im Landtagswahlkampf in Heidelberg und Umgebung geklebt. Einige wurden auch wild in Stuttgart geklebt. Dann hatte ich innerhalb von zwei Tagen die ersten vier Prozesse deswegen. Damals ging das los, bis es irgendwann einmal über 40 waren. Ich habe überlegt, wie man das umgehen kann. Eigentlich haben sie sich nur an dem Logo der CDU gestört: Missbrauch des Namensrechts. Ich hatte dann einen seltsamen Krankenhausaufenthalt hier in der Klinik, weil jemand meinte, mir wäre möglicherweise eine Ader im Kopf geplatzt, das müsse untersucht und punktiert werden. Ich habe etwa zehn Tage in der Neurologie verbracht. Mit all den Schrecken, die eine Neurologie zu bieten hat. In der Klinik ist mir dann die Idee zu dem Plakat „Deutsche Arbeiter! Die SPD will euch eure Villen im Tessin wegnehmen“ gekommen. Ganz verquer. Es ist nicht einfach zu verstehen. Wer nicht satirisch denken kann, hat seine Probleme damit. Trotzdem hat das Plakat die höchste Auflage erreicht, die ich jemals mit einem Plakat erzielte: 70.000 Stück damals. Die wurden alle unter die Leute gebracht. Das war damals auch eine Art politischer Befreiungsschlag gegen eine Hetzkampagne, die von anonymen Wählerinitiativen gegen die SPD geführt wurde. Ich kann mich heute noch mit dem Plakat vorstellen, aus meiner Generation kennen das fast alle. Das war ein großer Vorteil, dass die Bürger anfingen etwas gegen die Starre, die sie empfunden haben – soweit sie sie empfunden haben, nicht alle empfinden alles –, zu unternehmen. Sie fragten sich: Was kann man selbst tun? Plötzlich versuchten sie die Demokratie zu leben und verlangten nicht bloß von den Politikern, dass sie dieses oder jenes machen sollen.
Sie haben bereits von Vergangenheitsbewältigung gesprochen. Günther Uecker hat das Wort „Schulderbe“ verwendet. Es gab viele Künstler, die damit zu tun hatten, weil sie auch diese Bilder im Kopf hatten.
Ja. Auschwitz – um das mal als Signal, als ein Etikett zu nehmen – ist immer präsent gewesen. Diese Gräuel, anders kann man es ja nicht bezeichnen, das Unfassbare, der maschinelle Tod von Menschen, die man einfach, sagen wir mal ganz salopp, zu Außenseitern erklärt hatte, das war natürlich immer wieder von Neuem präsent. Aber es wurde nicht besprochen. Es wurde verdrängt. Das ist der klassische Ausdruck dafür: Es wurde verdrängt. Es gibt Arbeiten von Beuys und hauptsächlich auch von Vostell, die versucht haben, das zum Thema zu machen. Auch ich habe Sachen dazu gemacht und viele andere auch.
ZERO hat sich letztlich auf ihre Art und Weise auch dazu positioniert. Ebenso Eugen Schönebeck, Georg Baselitz, Anselm Kiefer …
Kiefer ist eigentlich der deutscheste Maler, wenn man so will. Er geht geschichtlich ganz weit zurück. Er macht die deutsche Geschichte zum Thema und die ist vielfältig. Damit haben wir auch immer wieder unsere Probleme. Jetzt versucht eine Truppe, die sich AfD nennt, auf einmal daraus Kapital zu schlagen, indem sie behauptet, wir würden das Deutsche verdrängen oder wir würden das Deutsche nicht so leben, wie sie sich das vorstellen. Aber gleichzeitig hat das Deutsche immer ein furchtbares Unheil in die Welt hinausgetragen, wenn versucht wurde, das Deutsche über andere zu stülpen. Das ist unser nationales Thema und das wird es auch bleiben.
Wie haben Sie in den 60er- und 70er-Jahren die unterschiedlichen Ausdrucksweisen der anderen Künstler wahrgenommen?
Erst einmal war ich für viele in dem Sinne kein Künstler. Die Kunst ist ja nicht unbedingt die große Harmonie-Veranstaltung. Auch nicht unter Künstlern. Wie viele Künstlerfeindschaften gibt es? Zum Beispiel zwischen Vostell und Beuys.
Was war zwischen denen Ihrer Ansicht nach das Problem?
Das Problem war, dass der eine prominenter wurde, kometenhaft aufstieg, und der andere zurückblieb. Ich glaube, es waren ganz menschliche, simple Dinge. Die Fluxus-Auseinandersetzung: Vostell behauptete, Beuys gehöre gar nicht zu Fluxus, trotzdem hat Beuys seinen Stempel „Fluxus Zone West“ draufgedrückt. Es waren ganz einfach persönliche Rivalitäten. Ich kann mich irren, ich habe immer versucht mich da rauszuhalten. Vostell hat mich einmal vor die Alternative gestellt: „Entweder bist du mit mir befreundet und arbeitest mit mir zusammen oder mit Beuys.“ Darauf habe ich gesagt: „Mit jemandem, der mir solche Bedingungen stellt, kann ich nicht.“ Damit war das Verhältnis leider beendet, was ich sehr bedauert habe. Ich bin der Meinung, es kann gar nicht genug Kunst geben. Auch verschiedenartigste Kunst. Ich war nie einer, der nur auf eine Sache geschaut hat. Ich habe mich für Dinge interessiert, wo andere sagen: „Wieso interessierst du dich dafür?“ Was es alles für tolle Sachen gibt! Für die Leute war ich dann auch der Postkarten-Onkel. „Das ist spannend, was der da macht, aber es ist keine Kunst.“ Na und? Dann ist es eben keine.
Ich habe mal, wie ich behaupte, ein sehr schönes Objekt, ein Abendmahl, für eine Kirche in Krefeld gemacht. Auf einen Holztisch habe ich elf Partyteller gelegt, auf die ich verschiedene Steine drapiert und Tischkärtchen von den 13 ärmsten Ländern der Welt dazugestellt habe. Der Pfarrer sagte, er würde die Arbeit gerne erwerben, ich müsste es aber vor der Kirchengemeinde vertreten. Ich sagte also meine Sprüchlein auf, warum und wieso, und die Leute nickten. Die Junge Gemeinde jedoch versuchte auf einer ganz anderen Schiene, die mit dem Objekt nichts zu tun hatte, gegen mich zu agieren. Zum Schluss sagte eine alte Dame: „Was Sie hier erzählen, interessiert mich. Das Objekt spricht mich an, das sagt mir etwas. Aber hier ist immer die Rede von Kunst, was ist denn nun daran Kunst?“ Da antwortete ich ihr: „Wenn Ihnen der Begriff ,Kunst‘ den Zugang versperrt, bin ich gern bereit darauf zu verzichten.“ Es wurde dann abgestimmt. 90 Prozent der Kirchenbesucher sollten und wollten darüber entscheiden: Hat das auf Dauer seinen Platz in unserer Kirche? Es ging gut aus, aber damals merkte ich: Der Begriff „Kunst“ versperrt doch manchmal sehr viel. Ich agierte immer im Kunstkontext und dann auch wieder nicht. Ich bin viermal als Künstler zur documenta eingeladen worden, hatte aber immer eine ganz besondere Rolle. Ich wollte meine Sachen dort nicht aufhängen, ich wollte mit meiner Marketenderei kommen, mit meinem Verkaufsstand, mit meinem Postkartenständer, mit meinem Büchertisch und ich möchte da auch sein. Einmal war ich hundert Tage da. Nebenan war Beuys mit seiner Honigpumpe. Das war eine lebendige Angelegenheit.
Viele kannten Beuys aufgrund seiner großen öffentlichen Auftritte, viele sind von ihm sehr eingenommen und positiv begeistert. Heute ist es schwierig diese Begeisterung nachzuvollziehen.
Ich war ja mehr der rationale Typ. Einmal wollte ein Reporter vom Südwest-Fernsehen während einer documenta, ich glaube 1982, ein Interview mit Beuys und mir machen. Ich weiß noch genau, wie wir vor dem Fridericianum standen, und auf dem Weg runter in die Aue, wo das gedreht werden sollte, sagte Beuys: „Ich weiß genau, was der Typ wieder will. Der will mich wieder als den Spinner darstellen und dich als den Vernünftigen.“ Ich glaube, das Interview ist nie gesendet worden, aber das war schon die Beschreibung der Außensicht. Für mich war Beuys der Spirituelle. Er war auf eine Weise spirituell, wie mir das gar nicht möglich ist. Ich staune darüber. Ich respektiere das und beneide, dass Leute dieses Spirituelle auch leben können. Ich bin ein Kind der Aufklärung. Ich glaube an die Kraft der Vernunft. Jemand hat mal in einer Ausstellungskritik über mich gesagt: „Er hat den verwegenen Glauben an die Vernunft.“ Den habe ich tatsächlich und den werde ich auch nie aufgeben, in all dem religiösen Wirrwarr, der heute schon wieder überall wuchert. Grauenvoll. Wenn die Ethik ein Maßstab für uns alle wäre, wäre das besser als die Religion. Insofern war Beuys einer, der mich immer auch angeregt und begeistert hat. Einmal machte jemand mit ihm ein Interview über seine Schüler. Da hatte ich mich bei ihm angemeldet: „Bist du heute da? Kann ich kommen?“ Ich kam zur Tür rein, da sagte er zu dem Interviewer: „Das ist auch ein Schüler von mir.“ Da habe ich gedacht: Ja, irgendwo schon. Ich habe zwar keinen Tag bei ihm an der Akademie studiert und bin auch nicht als Schüler aufgetreten, aber ich bin arbeitsmäßig – letztlich auch emotional – immer eng mit ihm verbunden gewesen, dass ich durchaus sagen kann: Er war mein Lehrer.
Was machte Beuys neben dieser Spiritualität – die Sie ja dann unmittelbar erfahren konnten, wenn er anwesend war – als Künstler aus?
Die Spiritualität prägte sich natürlich auch in seiner Arbeit aus. Die Leute haben gedacht – das war ein weit verbreiteter Glaube: Wenn er einmal stirbt und die Aura seiner Person nicht mehr in die Öffentlichkeit treten kann, dann ist es erst mal ziemlich vorbei mit Beuys. Ich habe das nie geglaubt. Die Kraft in seinen Arbeiten, die Beschäftigung mit seinem Leben … Andres Veiel macht jetzt einen Film über ihn. Was hat die Leute dazu angeregt, sich immer wieder mit der Person Joseph Beuys zu beschäftigen?
Ja, was?
Der verwegene Glauben an ein anderes Leben. Dass das Leben in Frieden und Freiheit doch möglich sei. Es gibt viele Metaphern dafür. Dass er so etwas fast Messianisches hatte. Am deutlichsten wurde das bei seiner letzten Rede in Krefeld – wo ich Gott sei Dank dabei war –, bei der er über Wilhelm Lehmbruck und die Weitergabe der Fackel gesprochen hat. Ich hatte damals wirklich das Gefühl: Das könnte seine letzte Rede sein.
Und so war es dann auch.
Ja. Das war wie eine Zusammenfassung seines Lebens. Wie oft haben wir uns unterhalten, ich habe ihn nie über Lehmbruck sprechen hören. Dass das eigentlich für ihn der große Fackel-Weiterreicher war. Und das ist, glaube ich, auch das Entscheidende an Beuys. Die Faszination seiner Person, mit all den Irrtümern. Ich halte zum Beispiel überhaupt nichts von der direkten Demokratie. Gnade uns Gott davor. Was wählen denn die Leute in der Schweiz? Die Ausschaffungsinitiativen. Was ist jetzt mit der AfD? Aus dem Stand erreichen sie in meiner Heimatstadt Bitterfeld über 30 Prozent. Das ist doch auch eine Art von direkter Demokratie. Was alles wäre, wenn man sie ließe. Wenn man da nicht noch irgendwann einen gemeinschaftlichen Konsens herbeiführt, Gnade uns Gott. Wenn die Leute nur noch über ihre eigenen Interessen eine Abstimmung machen wollen. Wir haben uns ganz bewusst – aus der Geschichte mit diesen Schrecknissen, die wir zu verantworten haben, kommend – für das Modell der repräsentativen Demokratie entschieden. Wir haben Zwischenstellen und eine 5-Prozent-Hürde, um nicht den Wahnsinn der Weimarer Republik zu wiederholen. Da war ich zum Beispiel ganz anderer Meinung als Beuys. Mein Freund Johano Strasser und ich wurden ja auch mal als Begründer der Grünen genannt. Keine Minute habe ich mich damit befasst, ein Mitglied der Grünen zu werden.
Das war dann auch der Streit zwischen Ihnen und Beuys, nicht wahr?
Ja. Dass jetzt die CDU und die Grünen so wunderbar zusammengehen, ist nichts Besonderes. Das war immer klar. Wir haben mal ein Plakat gemacht: „Wir brauchen die Grünen zur schwarzen Mehrheit“. Das wird auch so kommen. Das ist das ideale Angebot für ein breites Bürgertum. Konservativ – Kretschmann ist doch ein super Konservativer –, verbunden mit ein bisschen Ökologie. Das gute Leben. Das ist wirklich eine ideale Kombination. Ich sage das ohne Vorwurf, ohne Neid, sondern darauf läuft es möglicherweise hinaus. Für die Sozialdemokratie war immer einer der Obergriffe die Solidarität. Diese ist in einer Ich-Gesellschaft, die wir nun mal geworden sind, nicht mehr abrufbar, wenn man sie braucht.
Sie waren 1974 das erste Mal mit Joseph Beuys in den USA. Hat das amerikanische Publikum ähnlich auf ihn reagiert wie die Deutschen, oder haben Sie Unterschiede feststellen können?
Ich habe ihn fast bewundert, wie er mit dem amerikanischen Publikum umgegangen ist. Er wollte ja nicht mit seinen Arbeiten kommen – mit seinem Krempel, wie er sagte –, sondern mit „Lectures“. Mit seinen Ideen. Die erste war in der New School in New York. Da waren die Skeptiker eigentlich fast alle versammelt. Blinky Palermo saß auch irgendwo.
Ronald Feldman hatte diese Reise organisiert, oder?
Ja. Der Galerist Feldman hat die ganze Reise organisiert. Und Beuys hat mich wohl gefragt: „Willst du nicht mitkommen?“ Da ich noch nie in Amerika gewesen war, habe ich zugesagt. Das war das einzige Mal, dass ich in Amerika war. Christoph Schlingensief wollte diese „Beuys in Amerika“-Reise mit mir noch einmal nachvollziehen. Er wollte dieselbe Reise noch einmal machen. Dazu ist es aber nicht gekommen, weil er vorher gestorben ist.
Ich habe damals sehr eng mit dem Verleger Gerhard Steidl zusammengearbeitet. Er hat auch meine ersten Plakate gedruckt. Das war eigentlich noch enger als mit Beuys. Wir haben ihn dann für die Amerika-Reise mit ins Boot geholt. Er nahm alles auf Video auf, leider ist es in schlechter Qualität.
Und Sie sind als Freund mitgefahren? Oder was genau war Ihre Aufgabe bei der Reise?
Ja, als Freund und quasi als Mitarbeiter. Ich habe mich nicht bloß als Schüler von Beuys, sondern immer auch als sein erster Mitarbeiter empfunden.
In welchem Zeitraum?
Die ganze Zeit, von 1968 bis zu seinem Tod 1986. Mit einer Unterbrechung: Praktisch ein Jahr haben wir Abstand voneinander gehalten. Das ging von seiner Seite aus. Er war so fanatisch für die Grünen eingetreten, während ich bei meiner Haltung zur SPD geblieben bin. Ich startete damals eine große Wählerinitiative für die SPD: „Aktion für mehr Demokratie“. Nachdem Beuys zuvor immer zurückgesetzt worden war, war er zwar 1980 auf die Wählerliste der Grünen gekommen, aber auf so einen aussichtslosen Platz in der Delegiertenkonferenz zurückgewählt worden, dass er in Wahrheit keine Chance hatte in den Bundestag gewählt zu werden. Da wollte er hin. Mir ist die Kandidatur bei der SPD mehrfach angeboten worden, ich wollte aber von außen wirken und nicht auf Distanz gehen. Einige Leute hatten Beuys eingeredet – Johannes Stüttgen, sein Schüler, war dabei einer der Führenden –, ich sei mit meiner Initiative daran schuld, dass Beuys nicht in den Bundestag gekommen sei. Ich hatte bewusst während des Wahlkampfs ein bisschen Abstand gehalten, weil ich wusste, dass er für die Grünen wie ein Löwe kämpfte. Ich hätte es gar nicht geschafft für die SPD so zu kämpfen. Als die Wahl vorbei war, hatte Beuys eine Ausstellung in einer Kölner Galerie. Zur Begrüßung sagte er: „Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben.“ Ich bin tief erschrocken, denn uns verband eine gute, enge Freundschaft – in jeder Hinsicht. Er sagte, ich sei schuld, dass die Grünen nicht in den Bundestag gekommen wären. Ich sagte: „Darüber sollten wir reden, aber nicht hier.“ Vor der Häme der ganzen Mannschaft. Willi Bongard, der für „art aktuell“ schrieb, verkündete später triumphierend in seinem Blättchen: „Beuys hat sich endlich von seinem Satelliten getrennt.“ Ich fragte Beuys noch: „Und was ist mit den Dingen, die noch in Arbeit sind?“ – „Ja, die machen wir noch fertig.“ Das war die Brücke. 1981 hatte Beuys in der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin eine Ausstellung und ich bat meinen Bruder, der damals noch in der DDR war: „Du musst zu der Ausstellung kommen. Steidl und ich fahren auch hin.“
Sie konnten in die DDR?
Ja, ich hatte gute Beziehungen zur Ständigen Vertretung und bekam immer ein Visum, wenn ich es wollte. Damals war Georg Girardet Kulturreferent. Ich war zwischendurch auch mal über den diplomatischen Weg drüben gewesen, dafür hatte ich ein Diplomatenvisum bekommen. Die DDR war ja der Staatsfeind.
Sie galten also nicht als Flüchtling?
Nicht mehr. Faktisch bin ich es natürlich geblieben, aber durch den Weg über die diplomatische Vertretung hatte ich auf einmal eine andere Rolle. Ich fuhr also zu der Ausstellung und dort begegnete Beuys mir wieder herzlich, als wäre nichts gewesen. Wir verabredeten uns acht Tage später in Düsseldorf und arbeiteten besser zusammen als je zuvor. Das hat, Gott sei Dank, gehalten, bis zum Schluss. Ja, die Tagespolitik hatte uns fast getrennt.
Ich habe über 200 Editionen mit Beuys gemacht. Ich bin sein Hauptverleger. Meine Konkurrenten stichelten immer, was er mit diesem Sozialdemokraten mache. Er sei doch ein Grüner. Das war auch einmal in Italien Thema. Wir waren beide in Rom zu einer Contemporanea-Ausstellung eingeladen. Ich mit meinen Plakaten und er hauptsächlich mit Fotos. Lucio Amelio, der ihn in Italien vertrat, fing in meinem Hotel, Hotel Adriano, an: „Beuys, was macht du mit dem?“ – „Klaus Staeck ist mein politischer Gegner.“ In meiner Not und um das nicht eskalieren zu lassen, habe ich gesagt: „Wir sollten das endlich auch mal nach außen kundtun. Dass wir befreundet sind, dass wir zusammenarbeiten und trotzdem parteipolitisch anderer Meinung sein können. Es wäre gut, wenn du mir das mal aufschreibst, lieber Joseph.“ Und dann hat er auf Hotelbriefpapier geschrieben: „Klaus Staeck ist mein politischer Gegner.“ Daraus machte ich dann eine Postkarte. Natürlich in Braun. Um aller Welt kundzutun: Leute, es macht keinen Sinn, Salz in diese scheinbare Wunde zu träufeln. Eine andere Edition, die ich verlegt habe, war ein Briefbogen von Karl Fastabend, der in Kassel zu den Mitarbeitern von Beuys zählte, auf den Beuys handschriftlich geschrieben hatte: „Freier demokratischer Sozialismus“. Drei Worte, unter denen wir uns problemlos beide finden konnten.
Es gab damals viele, die sich als Assistent von Beuys verstanden. Nicht nur Stüttgen, der häufig an seiner Seite war.
Assistenten, das sind Jünger. Das wollte ich nie werden. Dafür war ich viel zu selbstständig. Diese Gefahr habe ich sehr früh erkannt.
Sehr nah dran, so schildern Sie es jedenfalls selbst, waren auch Franz Dahlem und René Block.
Ja. Block hat auch einmal einen bösen Brief an Beuys geschrieben, woraufhin ich sagte: „Beuys, ich verzichte auf die Zusammenarbeit, wenn das irgendwie stört, aber ungern verzichte ich auf die Freundschaft.“ Das waren ganz unterschiedliche Beziehungen. Block war früher, gar keine Frage. Und man durfte nicht annehmen, dass ihm meine Arbeit mit Beuys gefiel, obwohl Block eigentlich genauso gut bedient worden ist. Aber es gibt unter Galeristen und Verlegern eben auch eine Art Alleinvertretungsanspruch. Das war Beuys allerdings immer fremd. Er hat immer viele bedient. Ich habe zum Beispiel von ihm nie große Arbeiten für den Kunstmarkt bekommen. Da hat er Alfred Schmela und andere Galeristen bedient. Er hat das schon gut verteilt. Er hatte nicht den einen Galeristen, der ihn managte und mit dem man verhandeln musste, wenn man etwas von ihm wollte, wie das bei vielen Künstlern der Fall ist. Er war immer relativ selbstständig und ist auf vielen Pfaden gegangen. Ich war nur einer davon. Es gibt natürlich immer Leute, die sich da auch dranhängen. Beuys hat mir erzählt, dass Patienten, die aus der Psychiatrischen Anstalt Grafenberg in Düsseldorf entlassen wurden, oft als Erstes zu ihm kamen.
Weil er selbst einmal da war?
Nicht deshalb, sondern weil er offenbar auch auf Leute mit psychischen Problemen eine Anziehungskraft ausübte. Ob das auch für mich gilt, weiß ich nicht. Er war wesentlich älter. Ich hatte häufig mit älteren Künstlern zu tun, das habe ich später festgestellt. Jede Begegnung mit Beuys war für mich ein Fest. Wenn ich ihn am Telefon gefragt habe: „Wie viel Zeit hast du?“, sagte er: „Eine gute Stunde.“ Meistens wurde daraus ein ganzer Tag. Einmal rief er am Sonntag an: „Du musst sofort kommen! Wir müssen etwas regeln.“ Unterwegs hätte ich fast einen Unfall gebaut. „Worum geht es?“ – „Wir müssen zu einem Patentanwalt.“ Der Anwalt hieß Raue und war in der Cecilienallee in Düsseldorf, einer vornehmen Anwaltsgegend. Beuys war damals schon ein berühmter Mann, der bekam auch am Sonntag einen Termin. „Was willst du denn patentieren lassen?“ Es ging um Strümpfe, bei denen in der Kniekehle ein roter Kreis eingewebt war. Beuys lief durch den großen Kanzleiraum und fasste sich mit den Händen immer in die Kniekehlen: Das wolle er patentiert haben. Dazu sagte der Anwalt: „Ein Patent geht nicht. Man könnte einen Gebrauchsmusterschutz machen.“ Ich sollte mit, weil ich die Strumpfproduktion übernehmen sollte. Ich sah mich schon als Strumpffabrikanten. Um es abzukürzen: Es ist nicht dazu gekommen.
Was genau wollte Beuys mit den Kniestrümpfen?
Er wollte, dass es gemacht wird. Es gibt diesen schönen Satz von Beuys: „Ich denke sowieso mit dem Knie.“ Das war die Beuys-Welt, das war eine Wunderwelt.
Er hat doch aber sonst seine Kunst auch nicht patentieren lassen.
Nein. Das war ein Ausflug in diese Welt und ich durfte ihn begleiten. Es ist davon nichts geblieben als die Begegnung mit diesem Raue. So etwas Wunderbares konnte man mit Beuys erleben. Auch in Amerika – es war wunderbar.
Die Amerika-Reise hatten wir noch gar nicht abgeschlossen …
Beuys dachte, die wollen ihn als deutschen Schamanen vorführen. Er breitete dort seine Tafeln aus und mitunter kamen die Leute zu ihm auf die Bühne und machten ihre Späße. Er war aber unbeirrbar und hat ruhig seine Ideen vorgetragen. In Chicago und Minneapolis war es dasselbe. In Chicago waren wir auch in einer Kunsthochschule. Dort machten zwei Schüler mit Beuys eine Performance, bei der sie ihn einwickelten. Dann wurden diese Surrender-Flugblätter verteilt. Eine Anspielung darauf, dass er als Flieger im Zweiten Weltkrieg war: „Ergebt euch.“ Die Kunsthochschule war beeindruckend, mit den neuesten Videoanlagen. Eine technische Werkstatt vom Feinsten.
Hatten Sie das Gefühl, dass Beuys in den USA verstanden wurde?
Um das Verstehen ging es ja nicht, sondern um das Wahrnehmen. Was geschieht hier eigentlich, an dieser Schule? Als Beuys von Herbert, dem Leiter der Kunstakademie in Chicago, gefragt wurde, was er von dieser wunderbaren Schule halte, antwortete ihm Beuys: „Herbert, wenn du mich fragst: Ich würde den Schülern ein Kartoffelschälmesser und ein Stück Holz in die Hand drücken und dann mal sehen, was sie daraus machen.“ Also das Gegenteil von dem, was dort an technischer Raffinesse angeboten wurde.
Am Ende der Reise haben wir noch ein Interview gemacht: Ich als Reporter ohne Grenzen halte Beuys das Mikrofon und er zieht Bilanz. Das Video ist zum Lachen, auf YouTube abrufbar. Beuys war sehr erleichtert, die Tour war ein Stress ohnegleichen. Wie viele „Lectures“ er gehalten hatte! Und immer war diese Spannung: Ist das ein Guru oder ist das ein Spinner? Das war überall spürbar, am deutlichsten in New York. Aber Beuys hat das eiskalt – cool, würde man heute sagen – durchgezogen. Bewundernswert.
Nach den „Lectures“ gab es wahrscheinlich weitere Gespräche, Abendessen …
Ja. In Chicago waren wir bei jemandem von der Kunsthochschule eingeladen. So sind zum Beispiel auch einige Editionen entstanden: Einer klappte den Klavierdeckel auf und da stand: George Staeck. Ich sagte zu Beuys: „Siehst du, Teile meiner Verwandten sind nach Amerika ausgewandert.“ – „Deine Verwandten sind doch nicht einmal bis nach Düsseldorf gekommen.“ Wir hatten immer einen wunderbaren ironischen Umgang. Ich habe mit keinem Menschen in meinem Leben so viel gelacht wie mit Beuys.
Vor allen Dingen auf dieser Reise?
Auch auf dieser Reise. Ich glaube auch, um den Stress abzubauen. Als wir ankamen, legte Beuys sich dieses warme Handtuch, das man im Flugzeug bekommt, aufs Gesicht. Mit dem Foto, das dabei entstanden ist, machten wir später eine Edition und eine Postkarte: „Beuys auf dem Flug nach Amerika“. Beuys hat alles aufgesogen und in seine Welt eingebaut. Er war einer der wenigen, der sich wirklich eine eigene Welt geschaffen hatte. Beuys war ein eigener Kosmos. Das findet man ganz selten. Das ist es, glaube ich, was die Leute so fasziniert. Diese eigene Welt, die er sich geschaffen hat. Irrtümer eingeschlossen – das ist meine Meinung. Manches habe ich überhaupt nicht verstanden. Zum Beispiel ist er bei der AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher), einer rechten Organisation, als Redner aufgetreten. Es gab auch noch andere Leuten, mit denen er zu tun hatte und bei denen ich sagen würde, ich würde nicht auf die Idee kommen, mich mit denen auch nur an einen Tisch zu setzen. Beuys war wirklich von seiner Idee des freien Menschen überzeugt, um es ganz schlicht auszudrücken. Und diesen Eindruck konnte er vermitteln.
Eine letzte Geschichte erzähle ich noch, um zu zeigen, was für eine Ausstrahlung Beuys hatte und welche Energie in ihm steckte. Er war ein Energiebündel. Zur „Experimenta 4“ in Frankfurt hatte er eine Aktion gemacht, eine „Lecture“ zum Thema: Warum wollen wir nicht endlich einmal über die Bundeswehr demokratisch entscheiden? Der Saal war voll und er redete und redete. Am Ende blieb nur noch ein kleiner Kreis von vielleicht acht, neun Leuten übrig. Es ging in eine Art Gespräch über und einer sagte: „Beuys, das verstehe ich nicht.“ Ein anderer: „Ich verstehe das völlig. Ich bin schizophren. Schade, dass mein Bruder nicht hier sein kann, der ist auch schizophren, aber er ist in einer Anstalt.“ Ich dachte: Ist das jetzt das Ergebnis dieser langen Anstrengung, dieser langen Rede, dass ein Schizophrener behauptet, er verstünde Beuys? Ich hätte das als vernichtend empfunden, Beuys sagte nur: „Ich merke das. Du verstehst mich. Wenn dein Bruder hier wäre, wären wir schon zu dritt.“ Er blieb also scheinbar ganz rational.
Im Karmeliterklosterhof war von der „Experimenta“ an dem Abend noch eine Veranstaltung, dort herrschte aber irgendwie miese Stimmung. Beuys wurde sofort ans Mikrofon gebeten. Neben ihm stand sein Schüler EL Loko aus Togo, beide in einem blauen Hemd, und EL Loko machte den ganzen Abend jede Handbewegung von Beuys mit. Dann holte dieser – zu meiner Verblüffung aus einem Arztkoffer, den ich vorher noch nie gesehen hatte – eine Figur: Emily, die Rolls-Royce-Kühlerfigur, die auf einen Schlittschuh geschraubt war und so eine Kreuzform bildete. Beuys hielt sie hoch und segnete quasi die Massen, verbeugte sich zusammen mit EL Loko und sagte: „Ich danke Ihnen.“ Das war sein Auftritt. Die anderen haben natürlich sofort bemerkt, dass Beuys die Unterhaltungsrolle nicht übernehmen wollte, und plötzlich kam es zu einer sehr ernsthaften Diskussion über das Theaterfestival sowie über die Rolle des Theaters überhaupt. Das war es eben auch, was Beuys als Person ausmachte.
Einerseits hatte Beuys das Spirituelle, vielleicht sogar Schamanenhafte, andererseits hatte er diese Bühnenpräsenz und schuf Bilder wie das mit dem Schlittschuh und der Figur als Kreuz.
Das hatte er vorher den ganzen Abend nicht gebraucht. Er hatte es offenbar für einen Augenblick, der eintreten konnte, dabei. Mehr war es ja nicht.
Sein gesamtes Auftreten! Nicht nur die Weste, sondern auch sein Pelzmantel …
Vor allen Dingen in Neapel, im Hochsommer! Einige in Neapel wussten, es ist jemand mit Hut und diesem wunderbaren Luchsmantel in der Stadt, der bei Lucio Amelio ausstellte.
War das reine Aufmerksamkeit?
Ich weiß eigentlich nicht, was es war. Natürlich war er der Mittelpunkt. Wenn er in einer Gruppenausstellung vertreten war, war es für die anderen Künstler nicht besonders angenehm. Die Fernsehteams stürzten sich natürlich direkt auf ihn. Daher war er auch bei manchen Künstlern nicht unbedingt beliebt.
Das überrascht mich. Ich habe den Eindruck, dass 99 Prozent seiner Zeitgenossen – jedenfalls von denen, mit denen ich sprechen durfte – nichts Schlechtes über Beuys sagen. Wenn wir heute eine Figur hätten, die sich so durch den Kunstbetrieb bewegen würde, wie Beuys es offenbar tat, die sich schon durch die äußerliche Erscheinung so stark absetzen würde, kann ich mir vorstellen, dass die Ablehnung sehr viel größer wäre.
Ja, heute klappt das nicht mehr. Es gibt auch Rollen, die irgendwann verbraucht sind – und Beuys hat diese Rolle bis zum Gehtnichtmehr ausgereizt. Man muss aber auch unterscheiden, was danach und was davor geredet wurde. Zu Lebzeiten waren nicht weit weniger gut auf ihn zu sprechen, wie heute mit ihm befreundet gewesen sein wollen. Irgendjemand sagte mal: „Wer alles behauptet mit ihm zu Mittag gegessen zu haben, da müsste er von früh bis spät nur gegessen haben.“ Das gehört auch zur Legende. Beuys müsste mehrere Leben gehabt haben, wenn er all die Dinge, die andere mit ihm gemeinsam verbracht haben wollen, wirklich eingelöst hätte.
Wie oft haben sich Beuys und Andy Warhol getroffen?
Ich war zweimal dabei. Auf der New-York-Reise haben wir ihn nicht getroffen, sondern seltsamerweise hier in Ludwigshafen, zusammen mit Schmela, und dann noch einmal in Düsseldorf, als Warhol bei Hans Mayer eine Ausstellung hatte.
Hatten die beiden ein freundschaftliches Verhältnis?
Andy Warhol war ja jemand, der wenig redete. Freundschaft? Dann wäre es eine Augenblicksfreundschaft gewesen, eine kurze Freundschaft. Nein. Mit dem Begriff Freundschaft muss man vorsichtig sein. Seit Facebook hat ja jeder Tausende Freunde … Ich habe Warhol einmal, ohne Beuys, bei Hans Mayer getroffen und hatte zufällig meinen Postkartenkarton dabei. Er hat eine nach der anderen angeguckt, wie ein Automat, er hat nichts gesagt. Beuys und Warhol waren anerkannte Heroes. Säulen der Kunst. Wenn die Säulen aufeinandertreffen, reicht es, dass sie Säulen sind.
Günther Uecker sagte 1965 in einem Interview mit Hans Strelow: „Ich glaube, dass ich mehr und stärker in New York sein werde, wenn ich dort bin. […] Ich habe einfach drüben so viel Erfolg, dass ich dableiben und auch dort existieren kann.“ Er blieb lange einer der wenigen. Weder Richter noch Polke oder Kiefer hatten vor 1980 größere Erfolge in den USA.
So sehe ich das auch, ja.
Woran lag das? Gab es in den USA gegenüber den Deutschen in den 60er- und 70er-Jahren noch Vorbehalte?
Das weiß ich nicht. Das hat mich auch insofern nicht interessiert, weil Europa für mich schon ein sehr großes Feld war. Ich bin auch – das merke ich immer mehr – ein sehr deutscher Künstler. Vielleicht hat mich das auch mit Beuys verbunden, auch er war ein deutscher Künstler. Mit allem, was Deutschland positiv wie negativ ausmacht. Amerika war weit weg und leider war ich bei dieser großen Guggenheim-Ausstellung nicht dabei. Mir hat dieser erste wunderbare Besuch mit Beuys in Amerika aber auch gereicht. Zum Beispiel waren wir bei einem Gespräch zwischen Beuys und der Women’s-Lib-Bewegung, bei der auch Yoko Ono dabei war. Es war wie auf Abenteuerreise, gleichzeitig hatte es etwas von einem Schulausflug. Außerdem habe ich noch aus der Zeit in der DDR ein Handicap, nämlich, dass ich so gut wie kein Englisch spreche. Das habe ich mir aus Luxus fast bis heute bewahrt. Allein dadurch hatte ich eine Barriere. Ronald Feldman war ja übrigens ein jüdischer Kunsthändler und er war der Erste, der Beuys nach Amerika eingeladen hat.
Norman Rosenthal sagt, auch in England habe es die deutsche Kunst praktisch gar nicht gegeben.
Nein, die gab es wirklich nicht. Das war sicher Norman Rosenthals Verdienst, dass wir im ICA ausstellen konnten. Der einzige „Amerikaner“, der bei „Art Into Society – Society Into Art“ dabei war, war der Deutsche Hans Haacke. Die Ausstellung hatte für mich im Nachhinein enorme Konsequenzen: Da meine Plakate vom deutschen Botschafter beanstandet worden waren, durfte ich sechs Jahre lang nicht in den Goethe-Instituten ausstellen. Heinrich Böll und Beuys haben sich mit mir solidarisiert. Böll sagte: „Ich gehe auch nicht mehr ins Ausland, solange Staeck vom Goethe-Institut boykottiert wird.“ Alles ausgelöst durch ein paar Plakate, die in der Ausstellung „Art Into Society“ hingen.
Die sogenannte „Staeck-Affäre“.
Ja. „Die Rote Rübe“, eine Theatergruppe, und Staeck, wir waren jetzt plötzlich die Feinde.
Hat Ihnen diese Position auch ein wenig gefallen?
Das kann ich eigentlich nicht sagen. Man wollte doch auch ausstellen. Irgendwann bin ich dann in Bonn ins Auswärtige Amt marschiert – wieder in alter DDR-Tradition: „Jetzt gehen wir da mal hin“ – und habe zu dem zuständigen Beamten, Barthold C. Witte, gesagt: „Was haben Sie eigentlich gegen mich?“ – „Gegen Sie? Gar nichts.“ – „Würden Sie mir das schriftlich geben?“ – „Natürlich.“ Er schrieb mir dann: „Wir freuen uns, wenn Herr Staeck auch wieder im Ausland ausstellen kann.“ Damit bin ich zu den Leuten vom Goethe-Institut gegangen, die mir immer versichert hatten: „Wir würden Sie gerne mal wieder ausstellen, aber Sie wissen ja, es geht nicht.“ Das ist meine Geschichte. Wenn wir die auch noch erzählen wollen, brauchen wir zehn weitere Stunden.
Wir haben noch gar nicht über die Malerei gesprochen.
Das ist auch nicht mein Thema. Auch, wenn ich selbst eine Zeit lang gemalt habe. Neulich sind bei einer Auktion alte Sachen aufgetaucht. Das habe ich sofort selbst ersteigert. Wie gesagt: Ich bin bis heute neugierig. Auch darauf, was andere machen. Das hängt mit meinen politischen Interessen zusammen. Viele Künstler halten sich auch aus der Politik völlig raus, weil es scheinbar eine Gegenwelt ist. Als Böll seinen letzten Roman „Frauen vor Flusslandschaft“, der von der Bonner Regierungszeit handelt, schrieb, war es plötzlich ein politisches und damit ein schlechtes Buch. Künstler, die sich politisch engagieren, sind per se erst mal schlechte Künstler. Letztlich war das auch bei Beuys in bestimmter Weise der Fall, als er mit den Grünen politisch aktiv war. Das war gar nicht mehr nachvollziehbar. Auf wunderbare Zeichnungen, die ich auch teilweise von ihm erworben habe, machte er einen Stempel für die Grünen: „Wählt die Grünen!“ – mitten in die Zeichnung. Er war wie besessen davon. Es wurde dann ein sehr böser Artikel in der Zeitschrift „Überblick“ in Düsseldorf veröffentlicht: „Beuys war für die Anfangszeit gut, um für unsere Bewegung Aufmerksamkeit zu schaffen, aber jetzt, da wir an die Masse wollen, ist er eher störend.“ So wurde er von den Grünen behandelt. Ich war drei oder vier Tage vor seinem Tod noch bei ihm, und auf dem Hinweg im Express hatte ich gelesen: „Beuys trennt sich von den Grünen.“ Das hat mich, da wir so viel miteinander gekämpft hatten, natürlich interessiert. In einem anderen Artikel, in der „F.A.Z.“, hatte ich gelesen, dass für eine kleine Kiefer-Arbeit 4.000 D-Mark ausgegeben worden waren. Das waren unsere letzten Themen. Beuys sagte: „Guck mal, für so eine kleine Arbeit! Das war auch ein Schüler von mir. Aber wenn ich 20.000 für eine große Arbeit haben will, regt sich die ganze Welt auf, dabei habe ich schon 15.000 D-Mark Produktionskosten.“ Zu der Grünen-Problematik sagte er: „Nein, so leicht mache ich es ihnen nicht, aber innerlich bin ich eigentlich fertig mit denen.“