Kolumne vom 30. 06. 2022
Die documenta 5 begann auf den Tag genau heute vor 50 Jahren. Ich nahm an ihr und den drei folgenden teil. Bewundert habe ich diese Schau der Weltkunst seit meiner Flucht in den Westen.
Die erste Begegnung mit den großen Farb-Abstraktionen von Clyfford Still, 1959 auf der d 2, prägte sich für immer in mein Bildgedächtnis ein. So sah sie also aus, die Kunst der „Freien Welt“. Meine spätere Annäherung an das Kasseler Kunstereignis begann aber mit einem Hindernislauf. Denn meine Idee, die Stadt 1968 mit hunderttausend alternativen statt den üblichen Kitschpostkarten aus der frisch gegründeten Grafik-Edition zu beglücken, wurde ein Reinfall. Nicht nur, weil ich die Nachfrage völlig verkannt hatte, sondern auch, weil der documenta-Chef Arnold Bode wegen fehlender Absprache über die Verwendung des freimütig gedruckten Markennamens den Vertrieb auf dem Ausstellungsgelände untersagte. Eine Lehre fürs Leben, und die Postkartenkisten stapelten sich noch lange in Wohnung und Keller, bis sie irrtümlich nach einer Entsorgungsaktion samt der Druckstöcke meiner frühen Holzschnitte auf einer Mülldeponie bei Heidelberg landeten. Der Verlust schmerzte, doch die Edition setzte unermüdlich über Jahrzehnte auch dank treuer Partnerschaft mit Gerhard Steidl und frühem Beistand durch Joseph Beuys ihre Postkartenproduktion fort.
Die documenta 5 hatte mich zur Mitarbeit in der Abteilung „Politische Propaganda“ eingeladen. In der nach-68er Bewegung meinte man, in der Kunst die Spreu „Medium sozialer Veränderung“ vom Weizen der Rückkehr zur „ästhetischen Autonomie“ strikt trennen zu müssen. Ich gehörte natürlich zur Fraktion, die den Ausbruch aus dem Elfenbeinturm predigte, wobei meine Ideen von der gesellschaftlichen Verantwortung der Kunst aus DDR-Erfahrung von stetem Misstrauen gegen die ultralinken 68er Spontis geprägt waren.
Mein Misstrauen galt aber auch der anderen Seite. Ich veröffentlichte mit Steidl unmittelbar vor der d 5-Eröffnung einen Band „Befragung der Documenta oder Die Kunst soll schön bleiben“. Ich traute dem Kurator Harald Szeemann zunächst nicht zu, dass er bereit wäre, sich von einflussreichen Galeristen, von einem „Freundschafts-, Patronats- und Lobbysystem“ unabhängig zu machen und ohne Rücksicht auf Gewinnerwartungen des Marktes eine kritische Bestandsaufnahme zeitgenössischer Kunst statt eine Verkaufsausstellung zu stande zu bringen. In dem Bändchen, das heute antiquarisch so gut wie unauffindbar ist, dokumentierte ich die Debatte, die sich über Monate intensiv mit Szeemanns Konzept beschäftigte, und kritisierte dessen „Zurück zum L’art pour l’art-Standpunkt“ als Abkehr vom ursprünglich propagierten politischen Konzept. Sein Satz in einem Interview, Kunst könne doch nicht unmittelbar etwas verändern, weil die Zweckfreiheit der Kunst ihre einzige Überlebenschance darstelle, war für mich damals eine Provokation. Nun ja, Ironie und das Spiel um die Aufmerksamkeit in den Medien bekommt man nicht in die Wiege gelegt. Dem später auch von mir hochgeschätzten Ausstellungsmacher, Freund und Akademiekollegen hatte ich in meinen Briefen sogar das autoritäre Gehabe eines Generals unterstellt, weil er die Amtsbezeichnung Generalsekretär trug. Szeemann schrieb mir „Wenn der Esel nicht mehr weiter will, kann man das Verhalten des Esels analysieren.“ Er sei aber dafür, einen Ballen Heu vor ihm baumeln zu lassen, damit er weitergeht. „Das Heu wäre demnach die Kunst, die Reiter Sie und ich und der Esel kann von der Gesellschaft bis zum Kunstkontext ja alles sein.“
Die Kolumne erschien am 30.06.2022 in der Frankfurter Rundschau.
Siehe auch: Die Documenta von 1972: Der Weg ins Freie von Arno Widmann, Frankfurter Rundschau vom 30.06.2022