Wahl gegen „die da oben“

Wenn die Dinge der Daseinsvorsorge aus dem Umkreis verschwinden, erscheint das als Versagen der Demokratie. Die AfD beutet dieses Gefühl populistisch aus. Kolumne vom 29.06.2023

Das Stück Thüringer Land rings um Sonneberg, in der Fläche halb so groß wie Berlin, fand dieser Tage so viel mediale Aufmerksamkeit, als handelte es sich um die Hauptstadt selbst. Das war nicht verwunderlich, weil mit der Wahl des ersten AfD-Landrates ein Dammbruch in der bundesdeutschen Demokratie drohte.

Da es geschehen ist, müssten angesichts der Stimmungslage unter der Wahlbevölkerung vor allem in ländlichen Gebieten zwischen Ostsee und Erzgebirge alle Warnlampen rot anzeigen. Ein von der AfD gestellter Landrat kann freilich noch nicht das demokratische System der Republik zum Einsturz bringen. Aber in der Tendenz liegt die Gefahr.

Wer es genauer wissen will, dem empfehle ich den „Thüringen Monitor“, der die politischen Einstellungen zur Demokratie im Freistaat durch die Jenaer Universität soziologisch präzise analysiert. Während sich immerhin noch 84 Prozent aller Befragten prinzipiell zur Idee der Demokratie bekennen, fällt der Absturz ins Gewicht, wenn nach der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie gefragt wird. In den Städten sind es noch 60 Prozent, auf dem Lande weit weniger als die Häfte der Befragten. Für sie dominiert die Empfindung, „abgehängt“ zu sein. Was die Soziologie als „Deprivation“ einordnet, kann man mit der Erfahrung oder dem Gefühl von sozialer Benachteiligung beschreiben. Selbst wenn zwei Autos in der verbreiterten Garageneinfahrt stehen, sagt das noch nichts darüber aus, dass man sich als Ostdeutscher auf der Verliererseite des Lebens wähnt. Sonneberg ist weit weniger von Arbeitslosigkeit und Industrieabbau betroffen als andere Regionen. Viele fahren zur Arbeit ins nahe Bayern, wo oft die besseren Löhne gezahlt werden. Aber entscheidend für die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen politischen System ist das Gefühl, von Bundes- und Landespolitik vernachlässigt zu werden.

Platz der Deutschen Einheit in Ludwigshafen

Je tiefer man ins Land schaut, desto mehr stößt man auf eine ablehnende Haltung gegen „politische Eliten“. Es heißt: die da oben interessieren sich doch gar nicht für uns!“ Wenn die Dinge der Daseinsvorsorge aus dem Umkreis verschwinden – von der Sparkasse bis zum Hausarzt -, wenn man sich kulturell abgehängt fühlt (etwa ein Drittel im ländlichen Raum), dann wird dies als Politik- und Demokratieversagen bewertet. Und wenn dann eine Partei daherkommt, die im Landesmaßstab offiziell als rechtsradikal anerkannt wurde, aber das Negativempfinden politisch-populistisch auszubeuten versteht, ohne auch nur einen realen Lösungsansatz anzubieten, so kann das spürbar die Wählerumfragen beeinflussen. AfD-Sesselmann wußte schon, warum er vor der Stichwahl jedem Journalisten und jeder Sachfrage zu seinen politischen Zielen auswich und lieber die Flucht ergriff, als sich einem Interview zu stellen.

War es nun ein gutes Zeichen für eine noch funktionierende Demokratie, dass sich alle gescheiterten Kandidaten für das CDU-Gegengewicht von Sesselmann ausgesprochen haben? Und wird dies bei allen nächsten Wahlen unter AfD-Dominanz usus werden?  Oder wird es zum Erfolgsrezept für noch mehr absolute Mehrheiten zugunsten einer fremdenfeindlichen, rassistischen, demokratieverachtenden und die Investoren vertreibenden Partei? Thüringen war schon 1930 der Vorreiter einer völkisch-nationalsozialistischen Koalitionsregierung in Deutschland. Kein Wunder, dass Höcke, derzeit angeklagt wegen Verwendung eines SA-Spruchs, jetzt jubelt. Der Thüringer Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer konstatierte noch vor der Sonneberger Wahl: „Wir sind über ‚Wehret den Anfängen‘ längst hinaus.“

Die Kolumne erschien am 29.06.2023 unter der Überschrift „AfD-Erfolge im Osten: Mehr als die Hälfte fühlt sich ‚abgehängt’“ in der Frankfurter Rundschau.

Ein Gedanke zu „Wahl gegen „die da oben““

  1. Ja, ich stimme dem vorbehaltslos zu.
    ABER: Leider gibt es hier im Main-Taunus-Kreis („Speckgürtel“ um Frankfurt/Main) anlässlich der hessischen Landtagswahl eine aggressive Plakataktion der AfD mit Sprüchen wie: „Abschieben schafft Wohnraum“ „Heizen wie wir wollen“ , „Wir vergessen nicht. Corona“ und anderes mehr. Der Main-Taunus-Kreis ist keinesfalls eine „prekäre“ Region und die AfD war bei den letzten Wahlen eine Randerscheinung. Wenn die AfD hier trotzdem so eine aggressive Wahlwerbung macht, fühlt sie sich entweder sehr sicher oder sie will provozieren.
    Wie kann man dem begegnen? Ich würde mir von Klaus Staeck und/ oder seinen Anhängern eine Plakataktion wünschen; zum Beispiel zu „Abschieben schafft Wohnraum“ sowas wie : Super ,dann kann Alice Weidel mit ihrer Frau und ihren Kindern aus dem Schweizer Asyl in ein deutsches Flüchtlingsheim ziehen“. ODER: Barmherzig: Chrupalla zieht in eine Gemeinschaftsunterkunft und überlässt sein Haus Wohnungssuchenden“. Oder zu „Heizen…“: „Und wir fördern weitere Umweltkatastrophen wie an der Ahr“.
    Es gibt sicher viele weitere Ideen dazu. Aber zur Entzauberung der AfD gehört auch, sie lächerlich zu machen.

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