Kolumne vom 11.01.2024
Vor mir liegt ein Buch, das Mitte der neunziger Jahre erschien. Der Umschlag zeigt eine Graffitti-besprühte Mauer in gehobener, bürgerlicher Wohngegend. Im Schriftzug „Nazis raus!“ hat ein anderer Sprayer das „raus“ durch ein „rein“ ersetzt und ein dritter sprühte in roten Großbuchstaben die entscheidende Frage: „WOHIN DENN?“.
Der Sammelband „Rechtsextremismus. Ideologie und Gewalt“, herausgegeben von der Berliner Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz, bietet mir auch heute noch fundierte Texte, um das Gedankengut (wenn man es so nennen will) der extremen Rechten in seiner ganzen Komplexität zu verstehen.
Die Autoren konnten noch nicht voraussehen, dass 18 Jahre später 18 Männer die „Alternative für Deutschland“ gründen werden. Und schon gar nicht, dass diese Partei mit stetig steigenden Umfragewerten, wegen rechtsextremer Verdachtsfälle unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehend, einen ganzen Flügel im Bundestag besetzen würde und in mindestens zwei ostdeutschen Landtagen als Wahlgewinner hervorgehen könnte.
An das „wohin denn?“ muss ich dieser Tage immer denken, wenn ich die Debatte um ein ja oder nein zum Parteienverbot der AfD verfolge. Wohin werden sich geschätzte 37 Prozent der Sachsen und Thüringer (männlich wie weiblich) orientieren, wenn der Favorit ihres protestlerischen Unmutes nach einem jahrelangen Verfahren vor den Verfassungsgerichten mit höchst ungewissem Ausgang tatsächlich als illegal eingestuft wird? Carsten Schneider, SPD-Mitglied und Ost-Beauftragter der Bundesregierung, kennt als bodenständiger Erfurter diese Clientel. Er appelliert an die „stille Mitte“, die sich erheben müsse, um diese Demokratie zu erhalten. Dieser Aufgabe könnten wir uns nicht entledigen, indem wir die AfD verbieten, wir würden es uns zu einfach machen. Und er warnt, da bin ich ganz seiner Meinung, vor „sehr hohen Kollateralschäden“. Allein der Antrag könne zu einer „noch größeren Solidarisierung“ mit der AfD führen, auch bei „Leuten, die gar keine AfD-Sympathisanten oder -Wähler“ seien.
Das NPD-Verbotsverfahren hat außer ein paar tausend Seiten Protokoll vor allem etwas mehr Aufmerksamkeit für die meist verpeilten Neonazi-Funktionäre hervorgebracht. Umbenannt in „Die Heimat“ laufen die ex-NPDler als kleines völkisches Häuflein nun hinter dem Erfolgsmodell AfD hinterher, das sich längst von seinen Gründervätern, die einst vor allem den Euro bekämpfen wollten, getrennt hat. Höcke, der aus dem Westen nach Thüringen importierte Geschichtslehrer, seit März 2021 amtlich als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft, bestimmt hinter Chropalla und Weidel eigentlich das Profil der Partei. Gern ließ er sich schon von einem österreichischen TV-Kumpan als künftiger „Ministerpräsident der Herzen“ interviewen. Dass er es wird, dass seine Partei im Freistaat über ihre eingesetzten Verfassungsrichter, über die Besetzung von Richter-Wahlausschüssen, über Verfassungsänderungen eine Erosion von Rechtsstaat und Demokratie einleiten, das könnte die politische Landschaft umkrempeln. Kein radikaler Umsturz aber ein schleichender Weg – doch schon eine Legislaturperiode würde genügen, um die liberale Demokratie auszuhöhlen.
Heribert Prantl, Journalist und früher auch Richter und Staatsanwalt, empfahl kürzlich, den Artikel 18 des Grundgesetzes anzuwenden, um Neonazis das aktive und das passive Wahlrecht zu entziehen. Er nennt es Intoleranz gegenüber Verfassungsfeinden als Absage an eine fatalistische Toleranz.
Die Kolumne erscheint am 11.01.2024 in der Frankfurter Rundschau.